© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/99 18. Juni 1999


Philosophie: Jürgen Habermas feiert heute seinen 70. Geburtstag
Ins Vergangene delegiert
Andrzej Madela

Ort und Zeitpunkt waren sorgfältig gewählt. Der weißhaarige Philosoph und ein kommender Kanzler sollten in der werdenden Hauptstadt zusammenkommen, in einem Haus, das dicht an der Grenze zwischen Ost- und Westteil der Stadt gelegen ist und dessen Namensgeber für einen vergangenen Aufbruch steht. Die Wahlkampfmanager hatten dem Politiker einen Schulterschluß mit geistiger Prominenz verordnet; der mediale Gewinn war hoch zu veranschlagen und der Veranstalter gehalten, den Denker eine Zeitlang gewähren zu lassen.

Doch so postnational und visionär dieser sich auch gab, sein Publikum mochte ihm nicht recht folgen. Dagegen lauschte es mit Hingabe den völlig glanzlosen Ausführungen des Politikers, dem so gar nicht nach Vision und Grenzüberschreitung war, wohl aber nach Wahlsieg mittels Auto und Bündnis für Arbeit. Mit seinem hemdsärmligen, bodenständigen Auftreten hatte dieser die Sympathie der Zuhörerschaft erobert.

Rasch merkte man beiden an, daß sie bedauerten, zusammengekommen zu sein. Während der eine verärgert an eine vertane Chance denken mochte, sich im Ruhm des anderen zu sonnen, schaute der andere eher verloren und wehmütig in die Runde. Er war fremd hier, seine Worte riefen allenfalls Verlegenheit hervor, die es schnell zu überspielen galt. So war denn der pflichtschuldige Beifall eine Erlösung für beide.

Die Szene in der stickigen Atmosphäre des Willy-Brandt-Hauses hatte gleich mehrfach Symbolcharakter. Der prominente Kopf der Bonner Republik verschwand unter mildem Lächeln der Zuhörerschaft durch die Hintertür, während sich der glanzlose, aber bodenständige Kandidat gehörig feiern ließ. Der Aufstieg des Politikers schien den Abschied vom Philosophen geradezu zwingend vorauszusetzen, der nie den Schatten der braven linksrheinischen Republik überspringen konnte.

Die junge Bundesrepublik mit ihrer nur mühsam kaschierten Vergangenheit und dem Übergewicht von Hitlers ehemaligen Bewunderern, die blitzschnell zu Demokraten mutiert sind – das ist die Erlebniswelt des jungen Adorno-Assistenten, der zu Anfang vehement die Wiederbewaffnung bekämpft und nur zögernd die Vorzüge eines Schnellkurses in westlicher Demokratie erkennt. Deren Wert wird ihm erst mit der Zeit bewußt, als sich die Bundesrepublik politisch stabilisiert und der allseits befürchtete Rückfall ausbleibt. Ihre Widerstandsfähigkeit gegen "nationalistische" Versuchung kürt er bereits Ende der 70er Jahre zum hervorstechendsten Merkmal ihrer spröden Schönheit.

Als Philosoph gehört Habermas der Generation an, die sich schon sehr früh in der politischen wie kulturellen Opposition zu den Gründervätern der Bundesrepublik sieht. So ist es nur konsequent, daß sie mit besonderer Hartnäckigkeit die Grundströmung der Nachkriegsphilosophie – die Metaphysik – attackiert, weil sie in dieser den Grund für irrationale Auswüchse der Hitler-Zeit glaubt. Die Rückkehr der Philosophie in die Bahnen eines ethisch und zivilrechtlich legitimierten Denkens liegt also für die jungen Philosophen nahe, auch wenn sich die Doktorväter dagegen sträuben.

Man muß den jungen Leuten von damals – Habermas, Blumenberg, Apel, Luhmann – eins lassen: Sie haben es verstanden, die deutsche Philosophie wieder diskutabel zu machen, indem sie sie von dem schwerhufig-heideggernden Geraune befreien. Dieses Reinigungswerk ist übrigens auch gegenüber den selbstgewählten Denkmeistern gründlich, Adorno und Horkheimer sind mit ihrem kindischen Glauben an die angebliche Widerstandskraft von Kunst gegen die kapitalistische Entfremdung bei ihren Schülern ebenfalls durchgefallen.

Daß gerade der kaum 40jährige Jürgen Habermas die neuere deutsche Philosophie lesbar macht, liegt auf der Hand. Sein erneuernder Zugriff, das war nicht nur der ausdrückliche Verzicht auf Tiefgründelei nach deutscher Wesensart, sondern vor allem eine Öffnung gegenüber der Moderne. Über Habermas hält sowohl empirische Sozialwissenschaft wie linguistische Forschung in die deutsche Wissenschaft Einzug, und sein Rückgriff auf die elend ausgelaugte Hermeneutik ist nicht ohne den angelsächsischen historischen Ansatz zu haben. In Kombination mit einem medial äußerst wirksamen republikanischen Politikverständnis und einer internationalen Orientierung als Staatsbürger steigt er zu einem Inbegriff des modernen Wissenschaftlers westdeutscher Zunge auf.

Freilich waren Republikanismus und Modernität nicht alles. Der Aufstieg des jungen Frankfurter Professors zu einer Leitfigur der liberalen Intelligenz wäre ohne den reformerischen Geist seiner Bücher nicht möglich gewesen. Es war zu einem erheblichen Teil gerade diese Gratwanderung, die ihm den heute kaum noch vorstellbaren Erfolg sicherte.

Der sichere Abstand, den der junge Habermas in "Strukturwandel der Öffentlichkeit" zum kunstreligiös abgehobenen Adorno einerseits und totalitär-marxistisch gepanzerten Georg Lukacs anderserseits hält, hat schon etwas von einem virtuosen Drahtseilakt. Die überfällige Reform, so Habermas damals, geht weder über eine elitäre Opernballbesucher- noch eine totalitäre Massenideologie. Die Reform sei ihrem innersten Kern nach das Ergebnis eines klugen Kompromisses, der aus vorausschauenden Motiven auf Gewalt verzichtet.

Wer will bestreiten, daß in diesem – für Habermas‘ Möglichkeiten fast schon mikroskopischen – Werk die innigste Wahrheit der jungen Bundesrepublik verborgen liegt? Auf Kämpfe verzichten, die uns nur verwüsten; theoretischen Schwachsinn beiseite lassen, der nur Utopie oder Ballast ist; Kräfte bündeln, wo man einander in der Sozialpartnerschaft entgegenkommen kann; und als letztes: Recht und Gerechtigkeit zwar nicht zur Deckung, aber doch einander ein Stück näher bringen, damit die Benachteiligten von heute nicht unsere Henker von morgen sind.

Daß ausgerechnet "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962) zu einem Publikumserfolg wurde, hat sehr wohl mit der präzisen Argumentation zu tun, die andere Bücher von Habermas nicht mehr erreichten. Mit seiner Hervorhebung des Bruchs mit der Vergangenheit sieht sich ein Teil der Gesellschaft bestätigt, der radikale Reformen unverzüglich ins Werk gesetzt sehen möchte. Die Betonung des Reformgedankens ist auf die Sozialdemokratie zugeschnitten, die gerade erst in Godesberg dem blutigen Umsturz abgeschworen hat. Der Rechtsgedanke greift Motive der katholischen Soziallehre auf, die Idee eines Racheaktes spielt überdeutlich auf Ängste eines Teils des restaurativen Kleinbürgertums vor einer "asiatischen" Revolution an.

In seinem Gestus der Veränderung ist dieses Buch, zusammen mit den "Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus" (1973), zu einer Bibel der staatskonformen Reformer geworden. Mag der Habermassche Wortschatz damals noch eine leicht rötliche Färbung aufgewiesen haben – die Brücken, die er mit "Legitimationsproblemen" und "Erkenntnis und Interesse" geschlagen hatte, gingen meilenweit über das klassische reformerisch-sozialdemokratische Milieu hinaus.

Es steht zu vermuten, daß gerade "Strukturwandel" und "Legitimationsprobleme" die unverfälschten Urkunden der frühen Bundesrepublik darstellen. Zwar handelt es sich dabei nicht um die Geburtsurkunde, wohl aber um eine Art offenes Tagebuch einer nachdenklich gewordenen Republik, die um ihre halblegitime Herkunft weiß.

Der Makel dieser Herkunft durchzieht sein Werk wie seit eh und je, ist aber erst um 1990/91 virulent geworden. Daß er – meistens reichlich naiv, mitunter geradezu kindisch – auf die Stunde Null von 1945 gepocht hat, weiß man mittlerweile zur Genüge. Die Mehrheit der Deutschen, denen laut Habermas die Republik nicht ohne Kriegsniederlage beizubringen war, mochte zwar dem politischen Willen der Gründerväter nur widerwillig und mangels greifbarer Alternative gefolgt sein, hätte sich aber über lange Jahre mustergültiger Rechtsstaatlichkeit und machtstaatlicher Askese dazu geläutert. So galt eine nachträgliche Legitimierung der republikanischen Staatsform aus seiner Sicht als obsolet, solange es eine deutsche Zweiteilung gab.

Mit dem Beitritt der DDR ändert sich die Lage schlagartig. Habermas mag nicht auf eine Deutschheit vertrauen, die mit 40jähriger Praxis eine längst totgeglaubte antidemokratische Tradition möglicherweise am Leben erhält. Er fordert eine Abstimmung über eine neue Verfassung, die so beschaffen sein müsse, daß sich alle Deutschen in ihr erkennen. Mit einigem Recht – hier ist ihm jedenfalls zu folgen – befürchtet er, das Grundgesetz könnte in der Ex-DDR leicht zu einem Werkzeug obrigkeitsstaatlicher Bevormundung degenerieren. Einleuchtend erscheint seine Forderung nach einer Verfassungskommission, die den radikalen Sinn für soziale Gerechtigkeit aus der DDR in westdeutsches Recht übersetzt.

Gleichzeitig aber zu seinen gewichtigen Beiträgen zur neuen deutschen Identität gerät seine verfassungspatriotische Position in die Defensive. Spätestens seit dem beispiellosen Niedergang des deutschen Sozialstaates Anfang der 90er Jahre ist kommunikatives Handeln bestenfalls eine wohlwollende Umschreibung für einen Staat, der zwischen lauter Partikularismen ewig "benachteiligter" Minderheiten aufgerieben wird. Seitdem zusätzlich Einwanderung und Krise des Parteienstaates die politische Willensbildung in die Knie zwingen, gewinnen ganz andere Optionen an Bedeutung.

Auch die Ethik seines Verfassungspatriotismus verschleißt gewaltig. Die 90er Jahre offenbaren ihre krüppelhafte Form ebenso wie ihre entsetzlich dürre Ausstattung. Als Stoff für evangelische Bildungsakademien gerade noch geduldet, erweist sie in der Alltagspraxis ihre Lebensferne. Sie hat nicht die Kraft, den Energien und der Dynamik einer komplexen Republik Dauer zu verleihen. Mit dem Ende der Ära Kohl verliert sie ihre letzte Chance.

Die Verknüpfung von Habermasschem Denken und Kohls Europapolitik wäre im übrigen eine Sonderuntersuchung wert. Fakt ist jedenfalls, daß der Höhepunkt seiner Bedeutung sich in etwa mit dem Gipfel Kohlscher Popularität deckt und daß es die CDU war, die die Idee einer europäischen Integration am konsequentesten und radikalsten verfolgt hatte. Auch sein ideenpolitisches Trauma von einem deutschen Rückfall in den nationalistischen Alleingang findet sich vielfach in der CDU-Führung und ihrem Programm artikuliert, ganz zu schweigen von der Vorstellung eines europäischen Staatenverbundes mit zentral erfaßten Kompetenzen.

Wie ein böser Treppenwitz der Geschichte mag es daher anmuten, daß es gerade die Sozialdemokratien in England, Frankreich und Deutschland sind, die seit geraumer Zeit ihre Programmatik mit den jeweiligen Nationalökonomien versöhnen und so ein Stück christliche Vereinigung zunichte machen. Daß sie damit auch einen Jürgen Habermas ins Vergangene delegieren, ist ein Nebenprodukt dieser Symbiose, eher unbeabsichtigt, aber keinesfalls ungewollt.


 
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