© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Die sozialistischen Irrwege der Kirche
von Klaus Motschmann

m Sonntag vergangener Woche ist in Stuttgart nach fünftägiger Dauer der sogenannte Deutsche Evangelische Kirchentag zu Ende gegangen, zu dem sich unter der Losung "Ihr seid das Salz der Erde" rund 100.000 Menschen versammelt hatten.

"Sogenannt" deshalb, weil sich spätestens seit dem Kirchentag von 1969, der ebenfalls in Stuttgart stattfand, viele evangelische Christen fragen, was an dieser multikulturellen Massenveranstaltung die Attribute "deutsch", "evangelisch" und "Kirche" rechtfertigt – sieht man einmal davon ab, daß sie mit Millionenbeträgen von der evangelischen Kirche sowie von Bund, Ländern und Gemeinden finanziert und dank der noch immer vorzüglichen Infrastruktur der evangelischen Kirche in erheblichem Maße organisiert wird.

Auch dieser Kirchentag hat wieder ein beachtliches Medienecho ausgelöst, ganz im Gegensatz zu den sonstigen Reaktionen auf Ereignisse und Entscheidungen der evangelischen Kirche. Eine Erklärung dafür liegt in der nach wie vor wichtigen politischen und gesellschaftlichen Funktion, die der Kichentag nach eigenem Verständnis wahrnimmt. Er versteht sich als "Zeitansage" und markiert damit Zäsuren der Entwicklung. Man erfährt, was die "Stunde geschlagen hat", welche Zeit abgelaufen ist, wieviel Zeit wir für diese oder jene Aufgabe noch haben und welche jeweils "neue Zeit" anbricht.

Zeitansagen haben im Prozeß der politischen Urteils- und Willensbildung eine wichtige Bedeutung, weil sie auf bestimmte Entwicklungen hindeuten, vorbereiten und damit Orientierungen ermöglichen. Zeitansagen dieser Art waren die Vorbereitung auf die neue deutsche Ostpolitik in den sechziger Jahren, auf die 68er Revolte und die Ökologie-Bewegung in den siebziger Jahren, auf die Friedensbewegung in den achtziger Jahren und auf die Neuformierung des Sozialismus nach dem äußeren Zusammenbruch von 1989 (Stichwort: "Der Traum aber bleibt").

Diese wenigen Andeutungen erinnern daran, daß die Synchronschaltung der Zeitansagen von Christen und Sozialisten in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich, nicht einmal in den Medien oder Universität, so vorzüglich und überzeugend funktioniert hat wie bei den Kirchentagen, wobei diese freilich nur die Funktion der "Ansage" im Sinne der Schallverstärkung zu erfüllen hatten. Wichtige "Zeitansagen", zum Beispiel die Verletzung elementarer Menschenrechte in den Ostblockstaaten oder der sich anbahnende Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems in Mittel- und Osteuropa, sind aus diesem Grunde auch unterblieben. Insofern hat sich der Kirchentag seit 1969 zu einer ebenso willfährigen wie deshalb bedeutsamen Plattform zur Durchsetzung sozialistischer Theorie und Praxis in Kirche, Gesellschaft und Politik entwickelt.

Es ist zu beklagen, daß im Zusammenhang mit dem Dauerthema "Schuld der Christen" in ihrem Verhalten zum Nationalsozialismus und zu den Ländern der sogenannten Dritten Welt nicht auch dieses schuldhafte Verhalten des Kirchentages mit der gebotenen Deutlichkeit behandelt worden ist.

Von der Notwendigkeit einer radikalen Umkehr auf dem 1969 eingeschlagenen Irrweg zu einer "sozialistischen Kirche in einem sozialistischen Staat" ist in der "Zeitansage" dieses Kirchentages nichts zu vernehmen gewesen. Warum nicht? Zahlreiche Indizien verdichten sich deshalb mehr und mehr zu der Gewißheit, daß der bisherige Weg trotz aller Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit fortgesetzt wird, wenngleich das äußere Erscheinungsbild die Anmutung eines Wandels vermittelt.

Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß der in den siebziger und achtziger Jahren vorherrschende Einfluß der "Christen für den Sozialismus" seit der sogenannten Wende von 1989 immer weniger spürbar ist, was freilich nicht zu der irrigen Auffassung führen sollte, daß er nicht mehr vorhanden ist. Er ist eben nur nicht spürbar.

Mit der "Wende" hat das nur sehr bedingt etwas zu tun; mit der Beachtung einiger allgemeiner Grundsätze der Behauptung errungener Einfluß- und Machtpositionen hingegen sehr viel.

Der massive Einbruch von Christo-marxistischen Irrlehren in die evangelische Kirche und den Kirchentag seit 1969 hat immerhin zu nicht minder massiven Abwehrreaktionen geführt, in der Kirche unter anderem durch die Bildung konservativer bzw. evangelischer Gruppierungen.

Die eindeutigen Linkspositionen gestatten – bei aller notwendigen Kritik – klare Möglichkeiten eigener Orientierungen. Wo es eine relativ exakt definierte "Linke" gibt, gibt es selbsverständlich auch eine "Mitte" und eine "Rechte". Und in den um sich greifenden Irrlehren der sogenannten Genitiv-Theologien (Theologie der Revolution, der Befreiung usw.) war neben allen Irrtümern eben doch noch "Lehre" erkennbar, die eine theologische und politische Auseinandersetzung ermöglichte.

Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere um den Absolutheitsanspruch Jesu (Joh. 14,6) und die Verwerfung aller Irrlehren ist die "Mitte des christlichen Glaubens" systematisch zersetzt worden. Entgegen allen christlichen Bekenntnissen hat die Kirche und damit auch der Kirchentag "als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkannt" (Barmer Erklärung 1934) – zumindest aber jede klare Verwerfung offenkundiger Irrlehren und Abgrenzung zu anderen Religionen vermieden. Richtiges mengte sich deshalb rasch mit Falschem; Bekanntes mit Unbekanntem; Verbindliches mit Unverbindlichem. "Alles ist richtig, auch das Gegenteil", um mit Tucholsky zu sprechen.

Die beabsichtigte Folge dieser Verwirrung der bekannten Positionen und Begriffe ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit, aus der das seelische Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach neuer Sinngebung und Verbindlichkeit entsteht. Das deutlich wachsende Interesse an Meditation, Spiritualität, Bibelarbeit und Gottedienst auf diesem Kirchentag bestätigt diesen allgemeinen Trend: die Kirchentage sind "frömmer" geworden – und damit lebendiger, bunter, vielgestaltiger, fröhlicher und wie sonst ds äußere Erscheinungsbild beurteilt worden ist.

Dem soll und kann nicht widersprochen werden. Ein Hinweis auf mögliche und in diesem Falle sehr naheliegende "Risiken und Nebenwirkungen" dieser vermeintlich positiven Entwicklung ist jedoch dringend geboten.

Der an sich zutreffende Hinweis auf die Wende zur Frömmigkeit ist noch keine überzeugende Antwort auf die Fragen, die sich nach dem Verlust der Mitte" und damit nach christlicher Verbindlichkeit stellen. Frömmigkeit läßt sich bei vielen Anhängern fremder Religionen, bei Sekten und Mystikern, nicht zuletzt bei Irrlehrern feststellen.

Der Satan selbst erscheint "eingehüllt in das Kleid der Frömmigkeit", so die warnende Erinnerung Dietrich Bonhoeffers vor den Mächten der Verführung. Frömmigkeit muß nicht, kann aber sehr wohl wie "umnebelnd Himmelsglut" (Goethe) wirken, das Bewußtsein verwirren und die Sehnsucht nach einer Verschmelzung aller Religionen und Weltanschauungen zu einer "Einheitsreligion" bzw. zu einem für alle verpflichtenden "Weltethos" (Hans Küng) wecken. Die Emotionalisierung unseres Volkes wird auf diese Weise weiter vorangetrieben, rationale Orientierungen immer schwieriger.

Die Entwicklung zu einer "Einheitsreligion" als dem metaphysisch anmutenden Überbau der angestrebten multikulturellen Gesellschaft ist bekanntlich weit vorangeschritten, wobei es relativ gleichgültig ist, welche konkrete Ausprägung sie haben soll.

Entscheidend ist allein, daß die Kernaussagen des Christentums ohne politischen Zwang, sondern freiwillig zur Disposition gestellt werden und damit ein Hauptziel des über 150jährigen Kampfes der Sozialisten gegen Kirche und Christentum in greifbare Nähe rückt.

Die Sozialisten aller Schattierungen dürfen sich nach diesem Kirchentag mehr denn je in den letzten Jahren der (freilich trügerischen) Hoffnungen hingeben, daß sich die Prognosen vom "Absterben der Religion" und des "bürgerlichen Staates" doch noch erfüllen und daß demzufolge auch kein Grund besteht, die Zielvorstellungen sozialistischer Daseinsgestaltung grundsätzlich zu überdenken. Die "Zeitansage" des Stuttgarter Kirchentages hat dazu jedenfalls keine Veranlassung geboten. Er hat – ganz im Gegenteil – einen wichtigen Beitrag zur Sammlung und zur Neuordnung der gesellschaftlichen und politischen Kräfte auf dem Wege zu diesem Ziel geleistet und sich dabei –bewußt oder unbewußt? – einer zuverlässigen Methode der Feststellung des Kräftepotentials bedient: Sie lautet: "Laßt tausend Blumen blühen" – nicht aus Respekt vor den Eigenarten und Besonderheiten, sondern im Interesse der Feststellung, wie und wo und in welcher Stärke die eigene Saat aufgegangen ist, wo sie nicht aufgegangen ist, wo eventuell neu gesät werden muß und wo sich Unkraut befindet, das vernichtet werden muß.

Es soll nicht behauptet werden, daß dies die erklärte Absicht der Veranstalter des Kirchentages wat. Es sollte allerdings auch nicht behauptet werden, daß sich der Kirchentag und darüber hinaus die evangelische Kirche insgesamt gegen eine derartige Vereinnahmung zu ideologisch-politischen Zwecken hinreichend und erkennbar abgesichert hätten, trotz aller einschlägigen Warnungen und Erfahrungen der letzten 30 Jahre.

So bleibt die Feststellung, daß der unbestreitbare äußere Wandel des Kirchentages die Kontunuität in der Zielsetzung seiner Arbeit nur sehr mühsam zu bemänteln vermag. In diesem Sinne ist auch die Wahl der bisherigen Generalsekretärin des Kirchentages, Margot Käßmann, zur Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche und die breite Zustimmung in der Evangelischen Kirche Deutschlands eine unmißverständliche "Zeitansage": mit einer grundsätzlichen Kurskorrektur der evangelischen Kirche ist nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.

Dem sollte freilich hinzugefügt werden, daß nach menschlichem Ermessen manche politische Entwicklung hätte anders verlaufen müssen als sie verlaufen ist und noch immer verläuft. Aus dieser Tatsache ist keine Rechtfertigung passiven Abwartens abzuleiten, wohl aber ein Ansatzpunkt für Hoffnung.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann, 65, lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin. Er ist Vorstandsmitglied der konservativen Evangelischen Notgemeinschaft in Deutschland und Schriftleiter des Monatsblattes "Erneuerung und Abwehr".


 
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