© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Schwangerenkonfliktberatung: Caritas-Direktor Fischler über den Schein-Kompromiß
"Moral geht dem Recht voraus"
Karl-Peter Gerigk

Herr Fischler, kompliziert die Entscheidung der Bischöfe in Deutschland, dieses "Jein", einerseits in der staatlichen Schwangerenberatung zu bleiben und andererseits der Forderung des Papstes durch den Zusatz Rechnung zu tragen, daß mit der Bescheinigung keine Abbrüche unternommen werden dürfen, nicht die Situation für Sie vor Ort und für die Schwangeren?

Fischler: Es handelt sich bei der Entscheidung nicht um ein "Jein" der Bischöfe, sondern um ein klares "Ja" für den Verbleib in der Beratung. Es soll ein Schein ausgestellt werden, der bestätigt, daß eine Beratung stattgefunden hat. Diese Entscheidung können wir nur begrüßen, denn an dieser Eindeutigkeit hatten wir vorher Zweifel. Seit der Lingener Konferenz der Bischöfe war es unklar, ob wir in der Beratung und in der Scheinvergabe bleiben können. Das ist jetzt eindeutig beantwortet. Was die Hilfe für die Frauen betrifft, hat es nie einen Zweifel daran gegeben, daß, selbst wenn die Scheine nicht mehr ausgestellt werden, die katholischen Beratungsstellen dennoch weiterberaten würden. In Lingen wurden sechs unterschiedliche Möglichkeiten beraten, wie man sich künftig verhalten könne. Diese waren allesamt mit einer deutlichen Verbesserung des Hilfeplans ausgestattet. Natürlich waren diese auch kostenintensiver. Es existiert den Frauen gegenüber nun eine größere Verbindlichkeit bei den Hilfezusagen.

Es scheint, als ginge es dem Papst um den Schutz des ungeborenen Lebens und den deutschen Bischöfen wie auch den Beratungsstellen primär um den Verbleib in dem staatlichen Beratungssystem. Werden hier unterschiedliche Prioritäten gesetzt?

Fischler: Daß es dem Papst wie den deutschen Bischöfen und den Beratungsstellen grundsätzlich um den Lebensschutz geht, scheint mir selbstverständlich. Es geht um die gleiche Priorität. Es geht um die Frage des geeigneten Weges, dieses Ziel auch zu erreichen.

In der juristischen Interpretation gibt es die Argumentation, daß der Zusatz auf dem Schein nach dem Gesetz unwirksam ist, da nur eine Beratung stattgefunden haben muß und außer dem Namen der Frau, der Beratungsstelle und des Datums es für eine legale Abtreibung nichts weiteres bedarf. Wird hiermit das Bemühen des Papstes und der Bischöfe nicht durch die Rechtsprechung des Staates ad absurdum geführt?

Fischler: Es stellt sich in der Tat die Frage, wie es zu beurteilen ist, wenn ein Schein, der ausdrücklich nicht für eine Abtreibung verwendet werden soll, durch die Frau doch dafür benützt wird. Bischof Lehmann hat darauf hingewiesen, daß dies mit dem bisherigen Schein genauso ist. Die Kirche kann nicht bestimmen, was die Frauen mit dem Schein schließlich anstellen. Sie kann die Tötung des Kindes nicht endgültig verhindern. Die Entscheidung, ob ein Kind abgetrieben oder ausgetragen wird, ist eine Entscheidung der Frau. Dies bedeutet eine Ausweitung oder Anerkennung der Verantwortung der Frau und damit auch der Verantwortungslast.

Juristen und Frauenrechtler argumentieren, daß der Zusatz des Papstes "nur" moralische Bedeutung habe und das dies rechtlich, also im Rahmen unseres Rechtssystems und der Rechtsprechung entschieden werden müsse. Kommt denn ein Rechtssystem oder eine Rechtsprechung ohne moralische Bezüge aus?

Fischler: Das denke ich nicht. Eine Gesellschaft benötigt sicherlich moralische Instanzen. Ich erkenne zwischen Moral und Rechtsprechung nur einen Zusammenhang, der nicht konstruiert werden muß, keinen Widerspruch.

Damit erhöht die Kirche aber auch den Druck auf abtreibungswillige Frauen.

Fischler: Auf jeden Fall. Sie müssen auch bedenken, welche Frauen zu uns in die Beratungsstellen kommen. Dies sind nicht immer Menschen mit hohem intellektuellen Problembewußtsein. Schauen Sie sich unsere Statistik an. Von den Frauen, die zu uns kommen, geben 90 Prozent an, daß sie finanzielle Probleme haben. Andere Probleme, die mit der sozialen Situation zusammenhängen, wie Wohnraum, Arbeitslosigkeit oder daß man Ausländerin sei, werden danach am häufigsten genannt. Der jetzt auf der Beratungsbescheinigung hinzugefügte Satz, nach dem diese Bescheinigung nicht für eine straffreie Abtreibung benutzt werden kann, wird sicherlich den Druck der anstehenden Entscheidung verstärken.

Sind Sie nur für Kirchenangehörige zuständig?

Fischler: Wir beraten nicht nur Kirchenmitglieder oder nur Christen. Ein Großteil der ratsuchenden Frauen hat einen anderen kulturellen Hintergrund. Es sind islamische Mitbürgerinnen. Wir leisten so unseren Beitrag als Kirche innerhalb des Gemeinwesens. Bei den Ratsuchenden geben etwa sechs Prozent an, katholisch zu sein. Bei über 50 Prozent wissen wir die Konfessionszugehörigkeit nicht. 15 Prozent der Ratsuchenden gehören dem Islam an. So sind unsere Beratungsstellen offen für jede ratsuchende Frau.

Sie stellen die Offenheit, Freiheit und Pluralität in der Gesellschaft als einen Wert heraus. Geht die Freiheit der Entscheidung der Frau über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes?

Fischler: Darauf kann ich keine eindeutige Antwort geben. Es hängt doch auch von der Situation ab, in der sich die Frau befindet. Zum Beispiel ist der Gesundheitszustand der Frau in Rechnung zu stellen, nämlich dann, wenn ihr Leben durch die Schwangerschaft gefährdet ist.

Ist die Abtreibungspille RU 486 eine Entscheidungshilfe für eine Frau oder ist sie, wie Kardinal Meissner sagte, ein chemisches Tötungsmittel für Kinder?

Fischler: Der Eindruck, der zur Zeit erweckt wird, daß mit der Einnahme der Pille die Abtreibung fast wie von alleine ginge, ist nicht richtig. Dies ist ein medizinischer Prozeß, der frauenärztlich begleitet werden muß. Die Methode sollte allerdings nicht die Kernfrage sein.

Wenn die Frau die alleinige Freiheit der Entscheidung hat, dann ist sie aber auch die alleinige Verantwortliche für die Tötung.

Fischler: Ich wüßte niemanden, der diese Entscheidung nicht als Last empfindet. Mit der Entscheidung liegt auch die Verantwortungslast bei der Frau.

Meinen Sie, es gehört zu der Freiheit der Frau oder der Gesellschaft oder eines Staates, über Leben und Tod eines ungeborenen Kindes entscheiden zu dürfen?

Fischler: Solch eine Entscheidung ist eine Gewissenfrage, und dies hängt zusammen mit Gewissensbildung. Dies hat damit zu tun, wie sich insgesamt in der Gesellschaft Bewußtsein entwickelt. Das Gewissen fällt nicht vom Himmel, sondern muß gebildet werden.

Ist diese Bildung in unserer Gesellschaft durch materielle Maßstäbe bestimmt und das kindliche Leben hierdurch bewertet? Muß man da nicht materiell mehr helfen?

Fischler: Man kann an Hilfe nicht genug tun. Hilfegewährung ist immer ein Faß ohne Boden. Wir müssen uns hier nach der Decke strecken und im Bereich des Möglichen bleiben. Wir kommen natürlich auch materiell an die Grenzen, was jedoch keine Relativierung das Prinzips sein darf, das Leben zu schützen. Wir, die Caritas, können nur das Geld geben, das wir aus Spenden und Zuwendungen auch erhalten.

Ist hier nicht der Staat mehr gefordert?

Fischler: Ja – allerdings wird bei Zuwendungen durch den Staat immer auf Bedürftige und weniger Bedürftige verteilt.

Kann man bei dem Schutz ungeborenen Lebens von monetären Kategorien ausgehen?

Fischler: Man müßte materiell sicherlich mehr tun. Es ist immer eine Frage der Verteilungskämpfe innerhalb der öffentlichen Haushalte. Wir können hier derzeit nicht mehr leisten.

Was tut die Caritas hinsichtlich der materiellen Vor- und Fürsorge für ungeborenes Leben?

Fischler: Jeder Fall einer ratsuchenden Frauist einzeln abzuwägen. Wir gehen auf die spezielle Problemlage jeder werdenden Mutter ein. Wir klären mit der Frau ab, was aus dem staatlichen Hilfs- und Unterstützungssystem in Anspruch genommen werden kann, zum Beispiel Sozialhilfe, Wohngeld, Kindergeld und anderes mehr. Zweitens können wir Mittel von dritter Seite vergeben, zum Beispiel von der "Stiftung Mutter und Kind". Diese Mittel konzentrieren sich gerade auf die Zeit finanzieller Engpässe vor und nach der Geburt. Die Mittelvergabe ist dem speziellen Fall angepaßt. Darüber hinaus haben wir kirchliche Eigenmittel. Jedes Bistum hat einen Fonds genau für diesen Zweck. Aber die Stärke unserer Einrichtung liegt in der speziellen Betreuung jedes einzelnen Falles.

Der Verbleib der Kirche in der Beratung ist aus Ihrer Sicht also auch die Möglichkeit, den werdenden Müttern weiterzuhelfen?

Fischler: Was Papst und Bischöfe nun wieder verdeutlicht haben, kann ich nur begrüßen. Dies ist zwar keine neue Position, aber eine Klarstellung. Ich begrüße auch, daß wir weiterhin einen Schein ausstellen, auch wenn mir der "Status quo ante" lieber gewesen wäre. Wir müssen jetzt dagegen kämpfen, daß die Frauen, die zu uns kommen, denken: "die haben was gegen mich" – denn eine undifferenzierte Debatte, wie sie zum Teil geführt wird, hinterläßt ein ungutes Gefühl.

 

Franz-Heinrich Fischler ist Diözesan-Caritas-Direktor in Berlin. Geboren im März 1947, machte er in Merschwitz bei Chemnitz das Abitur. Danach studierte er an der Freien Universität Berlin Wirtschaftswissenschaft und erlangte den akademischen Grad eines Diplom-Volkswirts. Danach arbeitete er an der katholischen Akademie Hildesheim. Anschließend wurde er Geschäftsführer der Niedersächsischen Landesvereinigung der Heim- und Volkshochschulen. Zwischen 1986 und 1992 leitete er als Direktor die Caritas in Bremen. Seit 1993 steht er nun der Diözesan-Caritas von Berlin vor.


 
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