© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Zeitgeschichte: Josef Stalin und der Mythos vom Überfall
Bankrott der Konformisten
Ernst Topitsch

"Heute ist die Behauptung vielleicht nicht mehr verfrüht, die Matadore der konformistischen ’Zeitgeschichte‘ hätten nur mehr die Aufgabe, die Öffentlichkeit so lange wie möglich darüber hinwegzutäuschen, daß sie das Gesicht verloren haben." So schrieb ich im Nachwort der letzten Auflage meines Buches "Stalins Krieg". Inzwischen ist dieser Gesichtsverlust ein gutes Stück deutlicher geworden. Das hat ein zunächst ganz unauffälliger Vorgang gezeigt.

Am 27. Mai 1999 erschien in der Zeit unter dem Titel "Alle Warnungen mißachtet" eine von K.-J. Janssen verfaßte Rezension über den von G. R. Überschär und L. Besymenski herausgegebenen Sammelband "Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941", welcher – wie es im Untertitel des Aufsatzes heißt – einen "Konterschlag gegen ’Präventivkrieger‘" darstellen sollte.

Der Aufsatz hebt zunächst die auch von den meisten "Revisionisten" nicht bestrittene Tatsache hervor, daß "Barbarossa" insofern kein Präventivschlag im engsten Sinne war, als der deutsche Generalstab den Russen ein defensives Gesamtkonzept unterstellte. Dazu kommt die bekannte, vor allem im Rahmen der "Entstalinisierung" kolportierte Behauptung, Stalin habe alle Warnungen vor dem deutschen Angriff in den Wind geschlagen und sei so an den Niederlagen der ersten Kriegsphase schuldig. Das alles sind kaum mehr als alte Kamellen. Auffallend – und in ihren Konsequenzen aufregend – ist jedoch die Tatsache, daß zwischen dem Erscheinen des Sammelbandes im Mai 1998 und demjenigen der Rezension ein ganzes Jahr liegt. Nun könnte der Grund für eine so ungewöhnliche Verzögerung darin gelegen sein, daß der Band zwar die "Revisionisten" widerlegen soll, in Wirklichkeit aber wichtige Ergänzungen und Bestätigungen für deren Thesen enthält – ein fataler Widerspruch, um den sich der Rezensent nur herumschleichen kann, indem er den heiklen Punkten einfach ausweicht.

Weit darüber hinaus bedeutet dieser Widerspruch das Scheitern eines aus einem extremen Argumentationsnotstand heraus unternommenen Versuches, eines der zentralen Dogmen der konformistischen Zeitgeschichte doch noch zu retten. Zum Schutze dieser Dogmen haben die meisten Vertreter dieser "Wissenschaft" jahrzehntelang sowjetische Schlüsseltexte ignoriert oder härter ausgedrückt: unterschlagen. Das gilt für die von Lenin bereits 1920 umrissene Langzeitstrategie, nach welcher die "kapitalistischen" Mächte einander in einem zweiten "imperialistischen Krieg" zum Vorteil Moskaus zerfleischen sollten, für die höchst aufschlußreiche Rundfunkrede Stalins am 3. Juli 1941 (sie läßt die psycho-strategischen Gründe erkennen, aus denen Stalin den Deutschen der Erstschlag überlassen wollte), weiterhin für die 1972 und 1977 in der damaligen DDR erschienen Erinnerungen der Sowjetmarschälle Bagramjan und Wassilewski und schließlich für den am 8. Mai 1991 in der Prawda – damals noch Zentralorgan der KPdSU – erschienen Aufsatz des Militärhistorikers Oberst B. Petrow, wo es heißt: "Infolge der Überschätzung eigener Möglichkeiten und Unterschätzung des Gegners schuf man vor dem Krieg unrealistische Pläne offensiven Charakters. In ihrem Sinn begann man die Gruppierung der sowjetischen Streitkräfte an der Westgrenze zu formieren. Aber der Gegner kam uns zuvor" (Hervorhebung, E.T.). So war "Barbarossa" zwar kein Präventivkrieg im engsten Sinne, sondern der Zusammenprall zweier Stoßrichtungen totalitärer Eroberungspolitik, wobei der eine Angreifer dem anderen um eine geringe Zeitdifferenz zuvorkam.

Nach dem spektakulären Sieg im Westen stand die deutsche Wehrmacht zwischen der Roten Armee und dem Atlantik, und war dieses Hindernis beseitigt, dann waren die Sowjets die Herren zumindest über Kontinentaleuropa. So entwickelte der Kreml ein Konzept, in dem militärische und psychologisch-politische Kriegführung sorgfältig aufeinander abgestimmt waren. In militärischer Hinsicht sollte nach dem "Schukow-Plan" – mit oder ohne deutschen Erstschlag – das deutsche Ostheer in einer Großoffensive vernichtet werden. Konformisten haben versucht, diesen Plan zu einer bloßen Operationsstudie zu verharmlosen, doch in dem Sammelband wird nachgewiesen, daß die noch am ersten Kriegstag an die betreffenden "Fronten" (Heeresgruppen) ergangenen Befehle zum Gegenangriff sich nahezu wörtlich mit den entsprechenden Passagen des Schukow-Planes decken.

Wenn der Militärhistoriker Oberst N. M. Romanitschew zu dem Konzept des Gegenschlages schreibt, "das Erreichen des Oberlaufes der Elbe (soll wohl heißen: Oder) und dann auch eine Wendung nach Norden oder Nordwesten erlaubte es, sowohl die in Ostpreußen und Polen entfalteten deutschen Hauptkräfte vom Hinterland abzutrennen, als auch sie aufzureiben und so die deutsche Führung zur Kapitulation zu zwingen", so entspricht das wortwörtlich meiner in "Stalins Krieg" entwickelten Auffassung. Ja, der Autor vermutet sogar, Stalin könnte mit Rücksicht auf die Westmächte beabsichtigt haben, "Hitler die Möglichkeit des Erstschlages zu geben, während er sich einen ’Antwortschlag’ vorbehielt".

Tatsächlich bot ein deutscher Erstschlag enorme psychologisch-politische Vorteile. Er ermöglichte den erfolgreichen propagandistischen Mythos vom "heimtückischen und wortbrüchigen faschistischen Überfall auf die friedliebende und vertrauensvolle Sowjetunion". Dieser sollte die Kriegsbegeisterung der Sowjets entflammen, in aller Welt um Sympathie und Unterstützung für das Opfer werben und die Westmächte täuschen, indem er den intensiv vorbereiteten Eroberungszug als Reaktion auf den deutschen "Überfall" tarnte.

Es ist kaum vorstellbar, daß ein raffinierter Politiker wie Stalin diese Vorteile nicht bemerkt hätte, und er hat sich in seiner Rundfunkrede vom 3. Juli 1941 auch recht deutlich geäußert. Die friedliebende Sowjetunion habe die Initiative zur Verletzung des Paktes nicht ergreifen wollen, während Deutschland nun vor aller Welt als blutiger Aggressor dastehe. Es habe nur kurzfristig militärische Erfolge erzielt, "während der gewaltige politische Gewinn für die Sowjetunion ein ernster Faktor von langer Dauer" sei. Der Diktator malt dann diesen Gewinn – eine weltumspannende Welle der Sympathie und Solidarität – geradezu hymnisch aus, wobei er auch die freundliche Haltung und die Hilfsangebote der Westmächte hervorhebt.

Daß es sich hier um ein von langer Hand geplantes psychostrategisches Manöver handelte, geht auch aus einem wichtigen Detail des Molotow-Besuches in Berlin im November 1940 hervor. Der Außenkommissar, der die provokanten sowjetischen Forderungen überbrachte, teilte nämlich seinem Chef telegraphisch mit, er habe Ribbentrop erklärt, daß er "die sowjetisch-deutschen Abkommen vom vorigen Jahr ... mit Ausnahme der Finnland-Frage als erschöpft betrachte". Prompt kam die berichtigende Antwort: "Man sollte sagen, daß das Protokoll zum Nichtangriffsvertrag, nicht der Vertrag selbst erschöpft sei. Den Ausdruck ’Erschöpfung des Vertrages’ können die Deutschen als Erschöpfung des Nichtangriffsvertrages auslegen, was nicht richtig wäre." Stalin brauchte das Fortbestehen des Vertrages als Voraussetzung für den Mythos "vertragsbrüchigen Überfall".

Daß der Diktator mit einem kurz bevorstehenden deutschen Angriff rechnete, aber Zeit für den Abschluß seiner eigenen Vorbereitung gewinnen wollte, bezeugt sogar ein Interview mit dem Armeegeneral Ljaschtschenko, der als Major die Rede Stalins vom 5. Mai 1941 mitangehört hatte, in der dieser geäußert habe, es wäre ein Glück, wenn man mit politischen Mitteln "den Beginn des Krieges um zwei, drei Monate hinauszögern" könnte. Das bedeutet einen Termin zwischen dem 5. Juli und dem 5. August, was genau zu den Auffassungen der "Revisionisten" paßt.

Diese und andere wichtige Passagen, welche die Thesen der "Revisionisten" bestätigen, erwähnt der Rezensent – wie gehabt – nicht, und vielleicht ist ihm nicht entgangen, daß dieser Sammelband gewiß unbeabsichtigt nur ein weiteres wesentliches Indiz für den Bankrott der Konformisten darstellt.

 

Prof. (em.) Dr. Ernst Topitsch lehrte Philosophie an der Universität Graz. Er ist Autor des 1998 im Verlag Busse Seewald, Herford, in 3. überarb. und erw. Auflage erschienenen Buches "Stalins Krieg – Moskaus Griff nach der Weltherrschaft"


 
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