© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Naher Osten: Jerusalem kann Haupstadt der Juden und Mohammedaner sein
Die Herrschaft Israels anerkannt
Kenneth Lewan

In den Gesprächen zwischen Israel und den Palästinensern wird es auch nach dem Wahlsieg von Ehud Barak und einer anderen Ausrichtung der Politik im wesentlichen um die Herrschaft über Ost-Jerusalem gehen. West-Jerusalem wurde 1948 bei der Entstehung Israels in das israelische Staatsgebiet eingebracht. Den israelischen Anspruch darauf stellen die Führer der Palästinenser nicht mehr in Frage, sie betrachten West-Jerusalem, wie die anderen Teile von Israel, als endgültig verloren. Im Junikrieg 1967 eroberte Israel Ost-Jerusalem und ließ später wissen, daß es Ost-Jerusalem einverleibt hätte. Kein Staat hat Israels Anspruch anerkannt, alle betrachten Ost-Jerusalem als besetztes Gebiet. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Annektion von Ost-Jerusalem für null und nichtig erklärt.

Für den Anspruch Israels auf die Beibehaltung der Herrschaft in ganz Jerusalem sind mehrere Rechtfertigungen vorgebracht worden: Shimon Peres sagte nach einem Besuch in Kairo: "Ich sagte den Ägyptern, daß Jerusalem vereint bleiben und nicht zwei Hauptstädte in sich aufnehmen wird. Die jüdischen Bindungen an Jerusalem, religiös und politisch, sind stärker als die der Muslime." Daß Juden und Muslime eine starke Bindung an Jerusalem haben, ist allgemein bekannt. Das gilt auch für die Christen, die Peres merkwürdigerweise nicht erwähnt. Ob die Bindungen der einen Gruppe – die Gefühle und Gedanken von zahlreichen Menschen – stärker sind als die der anderen, läßt sich nicht messen. Dazu kommt, daß Peres außer Acht gelassen hat, daß Ost-Jerusalem für viele Palästinenser die Heimat ist. Ihr Anspruch ist durch jahrhundertelange Anwesenheit entstanden. Als Verkehrsknotenpunkt und infrastrukturelles Zentrum Westjordaniens ist Ost-Jerusalem für eine Staatsgründung der Palästinenser unverzichtbar.

Die israelische Herrschaft über ganz Jerusalem wird auch damit gerechtfertigt, daß sie für die Palästinenser von Vorteil sei. Vom ehemaligen Bürgermeister Teddy Kollek zufolge ist alles Mögliche getan worden, um die ungehinderte Entwicklung der arabischen Lebensweise in Ost-Jerusalem zu sichern und die Gleichheit in den kommunalen Leistungen durchzusetzen. Jedoch hat Israel seit der Eroberung Ost-Jerusalems in erheblichem Umfang Grundstücke von Arabern beschlagnahmt, um darauf Siedlungen für Juden zu bauen. Bisher ist mehr als ein Drittel des arabischen Bodens mit Siedlungen für etwa 170.000 Juden bebaut worden. Mit der Schaffung einer jüdischen Mehrheit will man die Welt dazu bringen, sich mit einer israelischen Herrschaft über die ganze Stadt abzufinden. In einer Untersuchung über die öffentlichen Ausgaben in Jerusalem kam Meron Benvenisti, ein zweiter Bürgermeister unter Kollek, zu dem Ergebnis, daß mehr als 90 Prozent der Gelder für den jüdischen Sektor verwendet wurden.

Die Alleinherrschaft Israels über Jerusalem wird auch damit gerechtfertigt, daß sie notwendig wäre, um die Einheit von West- und Ost-Jerusalem zu sichern. In diesem Zusammenhang wird oft daran erinnert, daß die Israelis in der Zeit zwischen 1948 und 1967 keinen Zugang zu Ost-Jerusalem und der Klagemauer hatten. Die Entscheidung, die Israelis nicht zur Klagemauer zu lassen, war zwar unglücklich, aber verständlich im Hinblick auf das, was die Zionisten den Palästinensern angetan hatten: 1948 wurden 78 Prozent von Palästina von den Zionisten erobert. Etwa 770.000 Palästinenser, das waren 80 Prozent der arabischen Bevölkerung, wurden vertrieben. Ihr Eigentum wurde Juden gegeben, ohne daß sie je eine Wiedergutmachung dafür bekommen hätten. Inzwischen haben sich die Palästinenser notgedrungen mit dem Staat Israel in den Grenzen von 1967 abgefunden. Die PLO hat den Staat Israel anerkannt. Die Palästinenser stellen die Bewegungsfreiheit beider Seiten in der Stadt nicht mehr in Frage.

Als weitere Rechtfertigung für die Herrschaft Israels wird behauptet, daß Israel 1967 einen Verteidigungskrieg geführt habe. Dagegen zwei Einwände: Erstens verbietet das Völkerrecht – die Haager Landkriegsordnung von 1907 – Annektionen aufgrund von Eroberungen, was immer der Anlaß für die Eroberung gewesen sein mag. Zweitens war der 1967 von Israel begonnene Krieg ein Angriffskrieg. Der Krieg begann, als Israel die gesamte ägyptische Luftwaffe am Boden zerstörte. Inzwischen haben vier Mitglieder des damaligen israelischen Generalstabs zugegeben, daß sie damals davon überzeugt waren, daß kein arabischer Angriff gegen Israel geplant war. General Peled: "Es gibt keinen Grund, die Tatsache zu verbergen, daß seit 1949 niemand es wagte, oder besser gesagt, niemand in der Lage war, den Bestand Israels zu gefährden. Es war allgemein bekannt, daß die arabischen Führer selbst ihre Machtlosigkeit einsahen und an ihre eigenen Drohungen nicht glaubten." General Bar Lev: "Wir wurden am Vorabend des Sechstagekrieges nicht von Völkermord bedroht, und wir haben nie an eine solche Möglichkeit gedacht."

Schließlich wird behauptet, der Besitz von Ost-Jerusalem sei für die Sicherheit Israels erforderlich. Man kann davon ausgehen, daß der Palästinenserstaat, der entstehen soll, weitgehend entmilitarisiert sein wird. Israel wird darauf bestehen, und die Palästinenser werden sich mit einer unbedeutenden militärischen Macht zufrieden geben, zumal sie sich nie mit Israel auf dem Schlachtfeld werden messen können. Freischärler- oder Terrorüberfälle von Ost-Jerusalem aus wären trotz palästinensischer Herrschaft über Ost-Jerusalem nicht auszuschließen. Auch von seiten mancher Israelis könnte man derartige Überfälle nicht unterbinden. Ein Palästinenserstaat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt hätte ein Interesse daran, jegliche Überfälle zu vermeiden, um Israel keinen Anlaß zu geben, einzugreifen und den neuen Staat zu gefährden. Mit anderen Worten: Die Sicherheit Israels könnte durch die palästinensische Herrschaft über Ost-Jerusalem verbessert werden.

Die Beibehaltung der israelischen Herrschaft über Ost-Jerusalem scheint also weder gerechtfertigt noch ratsam zu sein. Für welche Lösung soll man sich einsetzen? Die UNO hat 1947 die Internationalisierung von ganz Jerusalem empfohlen. Aber weder Israel noch die Araber sind dafür. Eine Internationalisierung der Altstadt allein, wo sich fast alle Stätten von religiöser und nationaler Bedeutung befinden, wäre auch für keine Seite annehmbar. Es ist kaum vorzustellen, daß Israel dazu gebracht werden könnte, auf die Herrschaft über die Klagemauer zu verzichten. Die beste Lösung wäre vermutlich eine gemeinsame Herrschaft der Israelis und der Palästinenser über die Altstadt, während der Westteil der Stadt weiter unter alleiniger israelischer Herrschaft bleiben und der Ostteil, außerhalb der Altstadt, den Palästinensern übergeben würde.


 
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