© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Pankraz,
Klio und der Kongreß der Hochstapler

Auf dem "Ersten Kongreß deutscher Hochstapler" neulich in Berlin war es schon entschieden. Er trug den Titel "Hochstapelei im Focus der Postmoderne", und während sich in den Hauptreferaten des Plenums im Kreuzberger Wasserturm noch die in dieser Branche bisher üblichen falschen Grafen und falschen Medizinprofessoren spreizten, gab es in den Wandelgängen nur ein einziges Thema: "Der moderne Hochstapler als Opfer".

Den größten Reibach, darüber war man sich völlig einig, können Hochstapler heute machen, indem sie sich als "Opfer" verkaufen, als "Opfer rechter Gewalt" beispielsweise, als "Opfer serbischer Ethno-Säuberer", am besten als "Opfer des Holocaust", wenn das noch irgendwie glaubhaft unter die Leute zu bringen ist. "Oral history" sei gefragt, von "Opfern" erzählte Geschichte, und diesen Boom gelte es auszunutzen und in klingende Münze bzw. soziales Prestige umzusetzen.

Immer wieder wurde mit größtem Respekt, ja fast ehrfürchtig, von einem Manne aus der Schweiz namens Bruno Dössekker gesprochen, dem "Felix Krull unserer Tage", wie es hieß. Dieser Dössekker, geboren 1942 in Biel, hatte ungeheuren Erfolg damit, daß er behauptete, er sei gar nicht Dössekker, sondern heiße in Wirklichkeit Benjamin Wilkomirski, sei das Kind litauisch-jüdischer Eltern und schon als Baby in ein Nazi-KZ gekommen, wo er wie durch ein Wunder überlebt habe. Nach dem Krieg sei er irgendwie in die Schweiz gelangt und vom Ehepaar Dössekker adoptiert worden.

Belegen konnte Dössekker seine Geschichte nicht, seine Eltern und die Standesbeamten stützten sie nicht. Doch das hinderte ihn keineswegs daran, ein Buch über seine Leiden zu fabrizieren, zusammengestellt aus angelesenen, mit weinerlicher Soße übergossenen Schreckensdetails. Der renommierte Suhrkamp-Verlag nahm sich des Manuskripts an, eine ausgedehnte Werbekampagne setzte ein, die Auflage stieg in schwindelnde Höhen, in Windeseile folgten Übersetzungen ins Englische und in andere Sprachen. Dössekker wurde reich und zum Star der Talkshows.

Natürlich meldeten sich alsbald Historiker, die Zweifel an der Authentizität der Dössekkerschen Erzählungen äußerten, mit scharfer, sogar vernichtender Kritik aufwarteten. Aber – und das war das Schöne an der Affäre, auf das denn auch die in Kreuzberg versammelten Hochstapler mit Begeisterung hinwiesen – entlarvt wurde der "Felix Krull unserer Tage" dadurch nicht, im Gegenteil, sein Ruhm wuchs nun erst ins wahrhaft Stattliche. Es war eben so, daß sein Auftritt nur allzu gut in den Zeitgeist hineinpaßte, seinen Verwaltern nur allzu gelegen kam.

Dössekker selbst stilisierte sich im Nu abermals als Opfer, diesmal als Opfer "gefühlloser, mitleidloser Archivhengste", die keinen Respekt vor der situationsbedingten Erinnerungsschwäche und tragischen Überphantasie eines armen KZ-Kindes hätten oder gar – Gipfel der Hinterhältigkeit! – die damaligen Schrecken "minimieren" oder "relativieren" wollten. Plötzlich standen die Historiker als Komplizen der Holocaustleugner da, während Dössekker mit tränenerstickter Stimme weiter die Talkshows bevölkerte und die Auflage seines Buches immer weiter stieg.

Bruno Dössekker, so das inoffizielle Resümee des Berliner Hochstaplerkongresses, ist der "Hochstapler neuen Typs", der "absolute Hochstapler". Kein Schutzmann und kein Staatsanwalt kann ihm mehr an den Wagen fahren, denn er schädigt niemanden mit seinen Vorspiegelungen und Auftrumpfereien, er leistet statt dessen einen wertvollen Beitrag zur Volkserziehung und müßte eigentlich vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz erster Klasse mit Schulterband und Stern verliehen bekommen.

Jener Kongreßteilnehmer, der Pankraz über die Kreuzberger Diskussionen informierte, verglich Dössekker mit dem Hauptmann von Köpenick. Der habe auch niemanden geschadet, lediglich das preußische Militär habe er lächerlich gemacht, und das sei letztlich eine gute Tat gewesen. Dössekker seinerseits habe die nationalsozialistische Herrschaft vielleicht noch etwas schrecklicher dargestellt, als sie ohnehin gewesen sei, aber das sei ebenfalls eine gute Tat. Sein Reichtum und sein Ruhm gingen in Ordnung.

Und wo bleibt die Würde der "oral history"? konnte Pankraz nur kleinlaut dagegenfragen. Wenn jeder geldgierige Hochstapler, bloß weil es den herrschenden Gewalten in den Kram paßt, mit deftigen selbsterfundenen Döntjes aufwarten darf, deren Modell er vorher in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen besichtigt hat – wer garantiert dann für die Triftigkeit von Mitteilungen, die gediegene Zeitzeugen machen?

Auch im Falle des Kosovo übertrifft ja das Ausmaß der von den Albanern geschilderten, angeblich selbsterlebten Serbengreuel bei weitem das, was die Gräbersucher der NATO verifizieren. Viele Albaner sind offenbar kleine Dössekkers, die ungeniert ein bestimmtes Interesse der NATO bedienen, weil sie sich davon – mit Grund – persönlichen Vorteil versprechen. Ihre Mitteilungen haben möglicherweise propagandistischen, tagespolitischen Wert, aber als "oral history" taugen sie nichts. Jeder Historiker, der sie ungeprüft übernähme, würde sich zum Tagespropagandisten erniedrigen, würde letztlich seine Wissenschaft verraten. Doch wer fragt schon noch nach seriöser Wissenschaft, wenn es um Politik geht?

Die Gemeinschaft der Wissenschaftler gerät, so scheint’s, immer mehr in die Hände von skrupellosen Hochstaplern, die nicht nur das Blaue vom Himmel herunterlügen, sondern sich auf Kongressen dieser Lügen noch ausdrücklich berühmen und sie als staatspolitisch wertvoll verkaufen. Opfer dieser Leute sind am Ende wir alle. Sie verschweinen die kollektive Erinnerung, verwandeln sie in einen Bauchladen, aus dem man nur noch billigste Ramschware an den Mann bringt. Klio, die Muse der Geschichte, muß ihr schönes Haupt verhüllen.


 
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