© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Brigitte Sauzay: Retour à Berlin. Ein deutsches Tagebuch
Neigung zu quälenden Selbstzweifeln
Doris Neujahr

Viele Jahre war Brigitte Sauzay als Dolmetscherin französischer Präsidenten tätig und übersetzte unter anderem die Gespräche zwischen Francois Mitterand und Helmut Kohl. Nebenher verfaßte sie das Buch "Die rätselhaften Deutschen" (1986), mit dem sie in die Fußstapfen Madame de Stäels trat. Dabei kam sie allerdings zu einem völlig anderen Ergebnis als jene in ihrer Schrift "De L`Allemagne" (1810). Aus dem ehedem von Madame de Stäel beschriebenen romantischen, nebelverhangenen Deutschland war inzwischen ein saturiertes und durchrationalisiertes Gemeinwesen geworden, leider auch in kultureller Hinsicht. Der einerseits bewunderten, anderseits gefürchteten deutschen Sphinx war jedes Geheimnis abhanden gekommen: "Deutschland (…), für Generationen von Franzosen einst ein faszinierendes Wort, magisch und unheilbringend zugleich; heute ist es banal geworden. ...Je mehr es sich nach dem Zweiten Weltkrieg ‘normalisierte’, um so mehr verlor Deutschland seine Faszination für die lateinische Welt."

Heute ist Brigitte Sauzay Beraterin von Bundeskanzler Schröder und Leiterin des 1993 gegründeten "Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa" in Genshagen bei Berlin, das als Treffpunkt und "Denkfabrik" für Politik, Kultur und Wissenschaft konzipiert ist und die deutsch-französischen Beziehungen in der früheren DDR popularisieren soll.

Jetzt hat sie ein Tagebuch des Jahres 1997 mit pointierten Reflexionen über Deutschland veröffentlicht. Die Anlässe ihrer Überlegungen sind Alltagsbeobachtungen, Gespräche, Zeitungsnotizen, Reisen und Konzerte. Ursprünglich ist das Buch für französische Leser geschrieben, doch auch auf deutsche Leser wirken Sauzays Notizen in der Regel originell, oft überraschend und fast immer erfrischend.

Es ist ein ausgesprochen positives Buch über Deutschland. So moniert Sauzay zwar die anhaltende deutsche Neigung zu verquälten Selbstzweifeln, zu Weltuntergangsvisionen und einem übertriebenen Sicherheitsdenken. Andererseits vermerkt sie es als Zeichen wachsenden Selbstvertrauens, daß ein "nationaler Solidaritätsbegriff" wie "wir Deutsche" in der öffentlichen Rhetorik immer häufiger verwendet wird.

Die Idee der europäischen Einigung bleibt für sie die unbestrittene, entscheidende Frage der Zukunft. Der Motor dafür ist ein funktionierendes deutsch-französisches Verhältnis.

Allerdings wünscht Sauzay sich eine stärkere kulturelle Grundlage für die Europapolitik. Impulse dafür erhofft sie sich – im Buchtitel klingt es an – von der deutschen Wiedervereinigung. Die kulturelle Selbstverleugnung der Deutschen, erfährt man bei ihr, kommt im Ausland keineswegs so gut an, wie diese es selber annehmen. Die penetrante deutsche Bescheidenheit läßt sich durchaus auch als Großmannssucht durch die Hintertür interpretieren, zumal ihre kompensatorische Kehrseite in einer wirtschaftlichen Stärke und einem Effizienzdenken besteht, die andere Länder verstören. Da die oft exzessiven Modernisierungsprozesse im Westen an den neuen Ländern weitgehend vorübergegangen sind, könnten diese die von "Effizienz geprägte prosaische Atmosphäre der Bundesrepublik" um das Element einer wiederentdeckten Langsamkeit bereichern. Wenn Deutsche "sich in kultureller Hinsicht mehr als Deutsche empfänden, brauchten sie es weniger auf wirtschaftlichem Gebiet: Für ihre Nachbarn wäre dann besser mit ihnen auszukommen."

Beflissene Postnationalisten vom Dienst wird es verblüffen, daß die in Deutschland geläufige Redewendung vom "Überwinden der Grenzen" in Frankreich daher Unbehagen hervorruft. Geradezu atemberaubend sind jene Passagen, in denen Brigitte Sauzay, die in den sechziger Jahren in Freiburg studiert hat, anläßlich einer Aufführung des Haydn-Oratoriums "Die Schöpfung" mit literarischer Verve über den "privilegierten Zugang der Deutschen zum Göttlichen" fabuliert und über ihre Empfindungen nach dem Verklingen des letzten Tons notiert: "Da sagte ich mir mit zugeschnürter Kehle und selbstvergessen Beifall klatschend, daß ich wüßte, warum ich Deutschland liebe."

Schade nur, daß der renommierte Siedler-Verlag einige fehlerhafte Anmerkungen zur deutschen Historie nicht korrigiert hat. Ein Beispiel nur: Die "Osthilfe" an die ostelbischen Großgrundbesitzer beispielsweise floß unter Hindenburg, nicht erst unter Hitler. Der Streit darüber trug 1932 zum Sturz von Reichskanzler Brünning bei.

 

Brigitte Sauzay: Retour à Berlin. Ein deutsches Tagebuch. Siedler Verlag, Berlin 1999, 329 Seiten, 39,90 Mark


 
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