© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Gedenken: Holocaust-Mahnmal, 20. Juli 1944 und nationale Identität
Deutscher Größenwahn
Dieter Stein

Ein Datum bietet besonderen Anlaß, über den Sinn kollektiven Erinnerns in Deutschland nachzudenken. Es ist das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler vor 55 Jahren. Hinter diesem Attentat stand keine "kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser, zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere" (Hitler nach dem Anschlag), sondern eine weitverzweigte Verschwörung in Armee und Verwaltung, die sich – so Carl Goerdeler – die "Wiedergewinnung von Ehre, Selbstachtung und Achtung" Deutschlands zum Ziel gesetzt hatte.

Der 20. Juli 1944 spielt trotz alljährlicher Pflichtübungen keinerlei Rolle in der öffentlichen Erinnerung Deutschlands. Das Datum irritiert mehr, als es dazu angetan ist, Dreh- und Angelpunkt des historischen Selbstbewußtseins der Deutschen zu sein. Hatte man bis in die sechziger Jahre mit Rücksicht auf die Frontkämpfergeneration schamhaft einen Bogen um die Verschwörer gemacht, so passen den nationsvergessenen Kosmopoliten von heute die nationalen Motive der Widerstandskämpfer nicht ins Konzept einer Schwarz-Weiß-Ideologie, die nur noch zwischen der strahlenden Zivilisation der westalliierten "Befreier" und der Barbarei des NS-Staates unterscheiden will.

Warum gibt es kein Interesse an der Chance einer Selbstbefreiung der Deutschen von Hitler? Warum paßt es nicht ins Bild, daß es mehr als eine "kleine Clique" war, die den Krieg beenden wollte? Warum erinnert man sich so ungern daran, welche militärisch-politischen Überlegungen – insbesondere unter Offizieren der Wehrmacht, trotz Befehl und Gehorsam, trotz Eid auf den Führer – für "danach" angestellt wurden?

Warum ist die Darstellung eines verirrten und opportunistischen Volkes, einer verbrecherischen Armee, einer zum Untergang verurteilten bzw. lediglich zur Bewährung entlassenen Nation so willkommen und wird von der politischen Klasse des wiedervereinigten Neudeutschlands des Jahres 1999 begeistert fortgeschrieben und zelebriert?

Befürworter des Holocaust-Mahnmals in Berlin treten vielleicht wirklich im guten Glauben an, etwas für ihr Land tun zu wollen. Sie wollen an das, was in deutschem Namen getan wurde, erinnern und mahnen, daß "so etwas" nicht wieder geschieht. Mächtig sichtbar inmitten der Hauptstadt Deutschlands schließt es das lärmende Bekenntnis dieses Besserungswillens ein. Das verhältnismäßig bescheidene Brandenburger Tor, Symbol der Teilung Berlins, aber auch der friedlichen Wiedervereinigung 1989/90, schrumpft nun neben dem Riesendenkmal deutscher Schande auf bedeutungslose Größe. Steht vielleicht ein edler Gedanke hinter der architektonischen Monstrosität? Die Idee nämlich, daß wer künftig nach Berlin kommt, und sagt "Ihr Deutschen habt nichts aus der Geschichte gelernt", dies im Angesicht eines an die Kolossalität der ägyptischen Pyramiden gemahnenden Monumentes deutschen goodwills tun muß. Werden da nicht Kritiker ehrfürchtig verstummen?

Wohl kaum. Das Holocaust-Mahnmal ist der tragische Ausdruck des psychologisch verständlichen Wunsches, von der Last eines Jahrhundertverbrechens befreit zu werden. Die Seele schreit nach Ablaß. Und mit jedem Mahnmal, mit jeder Selbstanklage, mit jedem neuerlichen Schlagen an die Brust hoffen diese Deutschen ihrem Schicksal zu entkommen. Das aber wird nicht gelingen.

Statt dessen muß schon jetzt ausländische Besucher die Unfähigkeit der Deutschen irritieren, sich selbstverständlich stolzer Traditionen zu erinnern: das spürbare Unvermögen, die großartigen und starken Ursprünge deutschen Strebens nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Humanität herauszuarbeiten und öffentlich gebührend zu feiern, anstatt freiheitliche Werte anachronistisch ins Ausland, "den Westen", zu verbannen. Statt also kraftvolle Traditionslinien, die die Ethik des Widerstandes vom 20. Juli 1944 begründeten, wachzuhalten, betonieren die neuen Berliner Herren als Kennzeichen der deutschen Republik die "völkische" Identität einer geschichtlich-ethisch verkommenen Nation einerseits , und das Bild einer in moralischem Edelmut erstrahlenden postnationalen Nation andererseits.

Der verzweifelte Mut der Verschwörer um Stauffenberg, das eigene Leben zu opfern, den Ehrverlust unter den militärischen Kameraden zu riskieren, um das Ganze, Deutschland, zu retten, wirkt auf geschichtsvergessene Deutsche heute nur noch befremdlich und peinlich. "Es lebe das heilige Deutschland"? Die Identifikation mit Opfern fällt da anscheinend leichter. Psychologisch frappierend ist, wenn beispielsweise die Förderer der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" aus Familien kommen, die in den oberen Etagen der NS-Nomenklatur angesiedelt waren. Kein Schrei der Empörung wird laut, wenn ein Autor (und mit ihm die Ausstellungsmacher Heer und Reemtsma) sich als Nachgeborener erdreistet, im Begleitband zur Ausstellung die Motive der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 verächtlich zu machen.

Das politische und moralische Versagen der eigenen Familien wird so auf das ganze Volk ausgedehnt. Dieses Motiv ist bei erstaunlich vielen Prominenten (Schriftstellern, Philosophen, Historikern und Politikern) der Bundesrepublik Deutschland zu finden. Sie selbst oder die Väter waren nicht nur Mitläufer, sondern oft stramme oder opportunistische Nationalsozialisten, zum Teil tief verstrickt ins Verbrechen. Nun schwingen sie sich zu Interpreten der deutschen Geschichte als einer Geschichte des direkten Wegs in Vernichtung, Unfreiheit und Untergang auf. Die politische Hybris der Väter schlägt bei den Söhnen in den moralischen Größenwahn und das Bestreben um, aus der individuellen Verstrickung des Einzelnen (des Vaters) eine kollektive Verstrickung des Volkes zu machen.

Für die Kinder und Enkel der NS-Nomenklatur mag es erlösend sein, sich "ein warmes Plätzchen bei den Opfern" (Henryk M. Broder) zu suchen, sich verspätet auf die Seite der "Sieger" der Geschichte zu schlagen. Sie setzen aber nicht dem ehrenhaften Widerstand, sondern allein ihrem eigenen Opportunismus und der Amoralität ihrer Väter ein erschütterndes und verwerfliches Denkmal. Dieser Anmaßung zu widerstehen, ist eine Verpflichtung einer komplexfreien, moralisch standfesteren Generation, die dem Andenken an das Vorbild des 20. Juli 1944 endlich einen gebührenden Stellenwert im Bewußtsein der Deutschen zu geben hat.


 
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