© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


20. Juli 1944: Vergessene Dokumente des deutschen Widerstandes zeigen Größe und Tragödie eines Versuchs, Deutschland vor dem Untergang zu retten
"Alle haben die Hosen voll! Niemand wagt zu widersprechen!"
von Wolfgang Venohr

Der Widerstand gegen Adolf Hitler, der im Attentat vom 20. Juli 1944 gipfelte, wird in der öffentlichen Diskussion nach wie vor widersprüchlich behandelt. Solange die Spaltung Deutschlands währte, stritten sich die beiden deutschen Teilstaaten um das Vermächtnis des 20. Juli. Seit der Wiedervereinigung bemüht man sich von interessierter Seite, die Offiziersgruppe um Stauffenberg mit Kommunisten und Pazifisten in einen Topf zu werfen. Niemand weiß mehr so recht, was die Verschwörer eigentlich wollten, wem sie sich verpflichtet fühlten, wofür sie ihr Leben opferten. Dabei ist ihr Sinnen und Trachten, ihr Kämpfen und Streben historisch exakt dokumentiert. Man muß das Material nur zusammenstellen.

Die nachfolgende Dokumentation tut das. Sie gibt die überlieferten schriftlichen und mündlichen Äußerungen der deutschen Widerstandskämpfer im Originalton wieder, und zwar korrekt gegliedert nach chronologischen Gesichtspunkten für die letzten zwölf Monate vor dem Attentat.

20. Juli 1943. Der schwerverwundete Oberstleutnant Claus Graf Stauffenberg diskutiert mit seinem Bruder Berthold auf dem Gut Lautlingen den Plan einer "deutschen Erhebung" gegen Hitler und dessen Regime. Claus Stauffenberg ist sich darüber klar, daß es sich um eine "tiefgreifende Revolution" handeln muß, und erklärt:

"Wir beginnen dann eben eine große Fahrt; die wird teilweise rasendes Tempo annehmen und wieder mit anderen Perioden wechseln. Was dann alles wird, kann niemand wissen, und es kommt alles darauf an, daß dann die richtigen Persönlichkeiten von Können und Charakter an der richtigen Stelle stehen."

"Eine Schar von Glücksrittern hat uns ins Elend gestürzt"

3. September 1943. Dr. Carl Goerdeler, der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister, den die antifaschistischen Verschwörer als zukünftigen Reichskanzler anstelle Hitlers vorgesehen haben, beendet eine Proklamation an das deutsche Volk, die nach dem Umsturz über den Großdeutschen Rundfunk verlesen werden soll. Die wesentlichen Passagen lauten:

"Es ist genug, das Maß ist voll! Die Vaterlandsliebe des deutschen Volkes und seine edlen Gefühle sind schmählich mißbraucht. Das deutsche Volk ging von der selbstverständlich erscheinenden Vorstellung aus, daß nur eine lautere Regierung für lautere Zwecke es zu den Opfern aufrufen könne, die es nun Jahr um Jahr gebracht. In dieser Überzeugung und erzogen zu Gehorsam, hat es immer wieder alle Leiden ertragen. Weit mehr als 1 Million deutscher Männer liegen auf den Schlachtfeldern, Hunderttausende sind zu Krüppeln geworden, ganze Städte sind in Trümmerhaufen verwandelt, ihre Bewohner unter Verlust ihrer Wohnstätten und ihrer Heime in alle Winde zerstreut. Und wenn wir nach 4 Jahren Krieg nun uns Rechenschaft ablegen, dann müssen wir erkennen, daß uns eine kleine Schar von Glücksrittern und Verbrechern in das Elend gestürzt hat... Der dies alles sagt, ist und wird bleiben: ein Preuße; von tiefem Schmerz und von steigender Empörung erfüllt, die edlen Traditionen Preußens so mißbraucht zu sehen, wie es durch Hitler und seine Verbrechergenossen geschehen ist. Sie haben es dahin gebracht, dieses Preußen auch im Ausland in Verruf zu bringen. Wo ist denn in der Geschichte Preußens ein dunkler Fleck? Oder ist es besonders kriegslustig gewesen? Kriege hat doch wohl jede europäische Macht geführt. War der Krieg Englands in Südafrika nur ein Verteidigungskrieg? Waren es die französischen Kriege unter Ludwig XIV. und Napoleon? Es fragt sich nur, ob Flecken der Unmenschlichkeit und der Unehrenhaftigkeit die Bücher der Geschichte besudeln. In der preußischen Geschichte sind sie nicht zu finden. Recht, Zucht und Ordnung, Anstand, wahres Menschentum erfüllen sie, und nichts anderes. Aber die Schuld für die Verleumdung Preußens und für eine jedem anständigen Preußen unerträgliche Mißdeutung tragen nicht nur die übel beratenen und oberflächlich handelnden Menschen draußen, sondern auch Hitler und seine Genossen, die weder Preußen sind noch jemals etwas von wahrem Preußentum begriffen haben. Zur Ehrenrettung meiner preußischen Heimat muß ich dies sagen; und nicht, weil der Wunsch besteht, die deutsche Geschichte nach rückwärts entwickeln zu wollen. Im Gegenteil: Wir werden einen gehörigen Schritt nach vorwärts tun. Wir wollen ein einiges Deutschland, und wir werden es uns von der Welt nicht nehmen lassen! Aber wir wollen dieses Deutschland wieder organisch gliedern in möglichst selbständige Gebiete mit einem äußersten Maß größter Selbstverwaltung, das mit den Reichsinteressen vereinbar ist. Ich brauche nicht zu betonen, daß Österreich wieder seinen alten Namen führen und sein altes Gebiet umfassen wird und daß wir geradezu wünschen, daß es in größtmöglicher Selbständigkeit und Freiheit seinen Platz selbst bestimmt. Es hat durch seine ruhmreiche Geschichte Anspruch darauf. Und heute sehen wir klarer, daß die Aufgabenteilung zwischen Preußen und Österreich manches Gute in sich barg. Jeder Staat hat seine Aufgabe mit bester Kraft erfüllt. Österreich und Preußen, beide von deutschen Menschen gegründet und fortentwickelt, haben dem deutschen Namen Achtung verschafft und sich bemüht, auch mit anderen Völkern einen Ausgleich zu finden. Wo kann man in der Geschichte unserem deutschen Volk nachsagen, daß es von Eroberung zu Eroberung geschritten sei? Es war Hitler vorbehalten, unser Volk in diesen Verruf zu bringen und Haß gegen uns aufzuspeichern."

1. Oktober 1943. Oberstleutnant Graf Stauffenberg, soeben zum Chef des Stabes im Allgemeinen Heeresamt in der Berliner Bendlerstraße ernannt, stellt zusammen mit seinem Freund, Oberst i.G. Henning von Tresckow, den grundlegenden Befehl fertig, der sofort nach dem Umsturz per Fernschreiben an alle Kommandostellen der Wehrmacht und als Proklamation an das deutsche Volk über den Großdeutschen Rundfunk verbreitet werden soll:

"I. Der Führer Adolf Hitler ist tot! Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen.

II. In dieser Stunde höchster Gefahr hat die Reichsregierung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung den militärischen Ausnahmezustand verhängt und mir zugleich mit dem Oberbefehl über die Wehrmacht die vollziehende Gewalt übertragen.

III. Hierzu befehle ich:

1. Ich übertrage die vollziehende Gewalt – mit dem Recht der Delegation auf die territorialen Befehlshaber – im Heimatkriegsgebiet auf den Befehlshaber des Ersatzheeres unter gleichzeitiger Ernennung zum Oberbefehlshaber im Heimatkriegsgebiet – in den besetzten Westgebieten auf den Oberbefehlshaber West – in Italien auf den Oberbefehlshaber Südwest – in den besetzten Ostgebieten auf die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und den Wehrmachtsbefehlshaber Ostland für ihren jeweiligen Befehlsbereich – in Dänemark und Norwegen auf die Wehrmachtsbefehlshaber.

2. Den Inhabern der vollziehenden Gewalt sind unterstellt:

a) sämtliche in ihrem Befehlsbereich befindlichen Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht einschl. der Waffen-SS, des RAD und der OT;

b) alle öffentlichen Behörden (des Reiches, der Länder und der Gemeinden), insbesondere die gesamte Ordnungs-, Sicherheits- und Verwaltungspolizei;

c) alle Amtsträger und Gliederungen der NSDAP und der ihr angeschlossenen Verbände;

d) die Verkehrs- und Versorgungsbetriebe.

3. Die gesamte Waffen-SS ist mit sofortiger Wirkung ins Heer eingegliedert..."

9. Oktober 1943. Als Reaktion auf die alliierte Forderung nach "bedingungsloser Kapitulation" Deutschlands ist Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, Stauffenbergs engster Freund und Mitverschwörer, dabei, gemeinsam mit Widerständlern aus dem Auswärtigen Amt und der "Reichsstelle für Raumforschung" einen deutschen Europa-Plan auszuarbeiten, der nach einem Remis-Frieden Wirklichkeit werden soll. Der angestrebte "Europäische Staatenbund" postuliert ein Vereintes Europa der Nationalstaaten. In einem Entwurf vom 9. September 1943, den Schulenburg jetzt zirkulieren läßt, heißt es:

"Das Besondere des europäischen Problems besteht darin, daß auf verhältnismäßig engem Raum eine Vielheit von Völkern in einer Kombination von Einheit und Unabhängigkeit zusammenleben soll. Ihre Einheit muß so fest sein, daß zwischen ihnen in Zukunft niemals wieder Krieg geführt werden wird und daß die Interessen Europas nach außen hin gemeinsam gewahrt werden können. In diesem Sinne sollen aber die europäischen Staaten ihre Freiheit und Unabhängigkeit behalten, damit sie in der Lage sind, ihren durchaus verschiedenen nationalen Aufgaben gerecht zu werden...Nicht auf der gezwungenen und geforderten Unterordnung der einen europäischen Macht unter die andere, sondern auf ihrer Einigkeit beruht die Kraft und die Sicherheit Europas... Die Lösung der europäischen Staaten kann nur auf föderativer Basis herbeigeführt werden, indem sich die europäischen Staaten aus freiem Entschluß zu einer Gemeinschaft souveräner Staaten zusammenschließen."

30. Januar 1944. Oberst i.G. Henning von Tresckow erörtert mit Generalleutnant Edgar Röhricht die verzweifelte Kriegslage und die innere Gestaltung eines zukünftigen Deutschen Reiches. Wie Stauffenberg ist er der Auffassung, daß der Umsturz "revolutionären" Charakter haben müsse, indem er erklärt:

"Wir sind in den letzten Generationen hoffnungslos verbürgerlicht, was weder an Namen noch an Herkunft gebunden ist... Wir sind herabgestiegen in die Ebene der genormten behäbigen Sicherheit... Die Würfel werden rollen, ... allein um der eigenen Achtung willen... Mag darüber zu Bruch gehen, was will."

15. April 1944. Stauffenberg spricht abends in der Tristanstraße, Berlin-Wannsee, gegenüber dem Mitverschwörer Major von Hösslin seine geheimsten Gedanken aus:

"Der Führer kann sich nicht mehr von seinen großen europäischen Plänen auf ein Deutschland im Rahmen seiner Volkstumsgrenzen umstellen. Ein Staat wie der nationalsozialistische, der eine Revolution verkörpert, kann nicht mit anderen Staaten Frieden schließen. Denn die Revolution wird von den anderen Völkern als ständige Bedrohung ihres eigenen inneren Zustandes betrachtet. Nein, auch der Führer muß weg! Die einzige Macht, die dann die Ordnung aufrechterhalten kann, ist das Heer bzw. das Ersatzheer. Die Wehrmacht ist in unserem Staat die konservativste Einrichtung, die gleichzeitig tief im Volke verwurzelt ist."

"Wiedergewinnung von Ehre, Selbstachtung und Achtung"

14. Mai 1944. Legationsrat Adam von Trott zu Solz vom Auswärtigen Amt trifft abends Stauffenberg in der Tristanstraße Nr. 8. Er bringt seine Denkschrift "Deutschland zwischen Ost und West" mit, die er in den letzten Wochen erarbeitet hat. Er liest dem Oberstleutnant die wichtigsten Abschnitte vor:

"England ist der Sowjetunion gegenüber der einzig enstzunehmende Gegenspieler in Europa. Die englische Politik im Sinne eines zweiten Diktats von Versailles ist falsch! Sie verhindert eine balance of power. Deutschland bleibt aber in Europa immer noch die zweitstärkste Macht. Sie muß von England gegen Rußland ausgespielt werden; das liegt im wohlverstandenen nationalen Selbstinteresse der Briten... Die einzige Möglichkeit ist ein ehrenvoller Frieden! Ohne Besetzung, ohne Gebietsabtretungen, ohne Kriegskontributionen, ohne politische Einkreisung und wirtschaftliche Fesseln... Deutschland ist – wie ganz Europa – durch raumfremde Mächte des Ostens wie des Westens bedroht; durch die Sowjets und durch die Amerikaner. Diese Bedrohung gilt den Briten ebenso wie den Franzosen, den Spaniern wie den Skandinaviern; aber in besonderem Maße natürlich den Deutschen. Das künftige Reich benötigt eine eigene kulturelle Identität aus den Kräften der Heimat und aus einer spezifisch deutschen Gesinnung. Deutschlands unentbehrlicher Beitrag für Europa und die Welt besteht darin, sich gegen den Übergriff fremder Mächte und Gesinnungen zu verteidigen. Deutschland darf sich weder ausschließlich für den Westen noch für den Osten entscheiden! Seine geographische Lage verlangt vielmehr, daß es mit beiden Seiten in ein erträgliches Verhältnis kommt, daß es sich der deutschen Verantwortung für Gesamteuropa immer bewußt bleibt."

20. Mai 1944. Dr. Goerdeler schickt, in seiner Eigenschaft als künftiger Reichskanzler, seinen engsten Mitarbeiter, Hauptmann Hermann Kaiser, zu Stauffenberg in die Bendlerstraße mit einem von Goerdeler selbst verfaßten 11-Punkte-Katalog, der die von deutscher Seite erstrebten Voraussetzungen für einen schnellen Friedensschluß mit den Gegnern auflistet:

"1. sofortiges Einstellen des Luftkrieges

2. Aufgabe der feindlichen Invasionspläne

3. Vermeiden weiterer Blutopfer

4. die Erhaltung der dauernden Verteidigungsfähigkeit im Osten nach Räumung aller besetzten Gebiete im Norden, Westen, Süden

5. Vermeiden jeder Besetzung des Reiches

6. freie Regierung mit eigener selbstgewählter Verfassung

7. vollkommene Mitwirkung bei der Abfassung von Waffenstillstandsbedingungen und bei der Vorbereitung und Gestaltung des Friedens

8. Garantie der Reichsgrenzen von 1914 im Osten; Erhaltung der Alpen- und Donaugaue und des Sudetengaues beim Reich; Autonomie Elsaß-Lothringens

9. tatkräftiger Wiederaufbau mit Mitwirken am Wiederaufbau Europas

10. Selbstabrechnung mit Verbrechern im Volk

11. Wiedergewinnung von Ehre, Selbstachtung und Achtung"

"Der deutsche Widerstand will eine zivile Demokratie"

21. Mai 1944. Dr. Goerdeler begibt sich persönlich in die Bendlerstraße zu Stauffenberg, um darauf aufmerksam zu machen, daß es zwischen der zivilen und militärischen Verschwörung (zu diesem Zeitpunkt umfasst der aktive Verschwörungskern etwa 160 Personen; davon zur Hälfte Offiziere der Wehrmacht) ernsthafte Differenzen gäbe. Er weist darauf hin, daß "radikale Elemente" der zivilen Anti-Hitler-Opposition an eine Schwächung der innenpolitischen Stellung der Wehrmacht dächten. Überhaupt, dem einen gehe es um dies, dem anderen um das. Stauffenberg unterbricht ihn schroff: "Es geht um die Rettung Deutschlands! Und um sonst nichts..."

8. Juni 1944. Stauffenberg, der am vorhergehenden Tag zum ersten Mal das Führerhauptquartier betreten und Hitler gesehen hat, ist sich der tödlichen Gefahr für das Reich bewußt, nachdem zwei Tage zuvor den westlichen Alliierten die Landung in der Normandie geglückt war. Er faßt nachts seine Gedanken in einem Papier zusammen, das später, nach dem 20. Juli, der Gestapo in die Hände fällt. Der Text lautet:

"1. Bei Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses ist eine Niederlage und Vernichtung der materiellen und blutsmäßigen Substanz unausbleiblich.

2. Das drohende Verhängnis kann nur durch Beseitigung der jetzigen Führung abgewendet werden.

3. Die vom Nationalsozialismus vertretenen Ideen sind großenteils richtig gewesen, nach der Machtergreifung jedoch ins Gegenteil verkehrt worden.

4. Die neue Führerschicht stellt in der Voranstellung eigensüchtiger Interessen, im Aufkommen von Korruption und Bonzentum eine Herrschaft der Minderwertigen dar.

5. Ein wesentliches Moment für die schlechte Gesamtlage ist in der Behandlung der besetzten Länder zu sehen.

6. Den Anfang vom Ende der gesamten militärischen Entwicklung bildet der russische Feldzug, der mit dem Befehl zur Tötung aller Kommissare begonnen hat und mit dem Verhungernlassen der Kriegsgefangenen und der Durchführung von Menschenjagden zwecks Gewinnung von Zivilarbeitern fortgesetzt wurde.

7. Die Führung ist nicht in der Lage gewesen, den Zweifrontenkrieg zu vermeiden.

8. Das derzeitige Regime hat kein Recht, das ganze deutsche Volk mit in seinen Untergang hineinzuziehen.

9. Nach einem Regimewechsel ist es das wichtigste Ziel, daß Deutschland noch einen im Spiel der Kräfte einsetzbaren Machtfaktor darstellt und daß insbesondere die Wehrmacht in der Hand ihrer Führer ein verwendbares Instrument bleibt.

10. In Ausnutzung der Gegensätze im feindlichen Lager bestehen verschiedene politische Möglichkeiten. Diese werden jedoch mit jeder weiteren militärischen Schwächung, insbesondere mit einem Wirksamwerden der Invasion, geringer. Daher ist rasches Handeln erforderlich."

19. Juni 1944. Der außenpolitische Experte der Widerstands-Verschwörung und Berater Stauffenbergs, Legationsrat Adam von Trott zu Solz vom Auswärtigen Amt, hat ein Memorandum erarbeitet, das er auf eine Reise nach Stockholm mitnehmen soll, um in Gesprächen mit Schweden und Briten den politischen Standpunkt der geheimen deutschen Opposition darzulegen. Dieses Memorandum hat er mit Dr. Goerdeler, den Sozialdemokraten Dr. Leber und Leuschner sowie vor allem mit Stauffenberg und Schulenburg abgestimmt. Mit Ausnahme des 9. Punktes war völlige Einigkeit erzielt. Der Text lautet:

"1. Der deutsche Widerstand, der das Hitlersystem beseitigen wolle, könne mit den Alliierten auf der Basis einer ’bedingungslosen Kapitulation’ unter keinen Umständen zusammenarbeiten, auch nicht, wenn Deutschland nach einem Waffenstillstand militärisch besetzt werden sollte. Die entehrende Bedingung der "bedingungslosen Kapitulation" sei weder psychologisch noch politisch für die deutschen Widerstandskreise in Betracht zu ziehen.

2. Deutschland müßten unbedingt territoriale Integrität und nationale Selbstbestimmung gewährt werden. Anderenfalls fürchte der deutsche Widerstand willkürliche Annexionen deutschen Landes, Sklavenhandel mit deutschen Arbeitern und Soldaten sowie eine fremde, ausländische Gerichtsbarkeit gegen die NS-Machthaber.

3. Wenn sich solche Befürchtungen bestätigen sollten, würde die deutsche Opposition zum Widerstand gegen die Alliierten getrieben werden.

4. Die deutsche Opposition brauche dringend die Unterstützung hoher militärischer Befehlshaber und Polizeikommandeure, die sie aber nicht erhalten werde, wenn sie dem deutschen Volk nicht ein besseres Los bieten könne.

5. Wenn die Alliierten dazu nicht bereit seien, dann könne der deutsche Widerstand auch nicht das Odium der Niederlage auf sich nehmen.

6. Es bestände die Gefahr, daß nach einer Niederlage zwei einander feindliche Deutschlands entständen, ein nationalbolschewistisches als Satellit der Sowjetunion, und ein westliches, in dem dann eine Hitlerlegende entstehen würde. Der Westen unternehme bislang nichts, eine solche Entwicklung zu verhindern.

7. Der deutsche Widerstand wolle keine Militärdiktatur, sondern eine zivile Demokratie, allerdings ohne kommunistische Organisationen.

8. Die neue Reichsregierung benötige Garantien für ihre nationale und internationale Handlungsfähigkeit. Zwischen dem Waffenstillstand an allen Fronten und der alliierten Besetzung Deutschlands müßten mehrere Wochen, möglichst Monate liegen, in denen die Umsturzregierung ihre innere und äußere Autorität stabilisieren könne.

9. Deutschland müsse in den Grenzen von 1937 existieren. Eine Besetzung deutschen Gebietes durch die Bolschewisten sollte möglichst vermieden werden.

10. Kriegsverbrechen dürften nur von deutschen Gerichten und auf deutschem Boden abgeurteilt werden."

23. Juni 1944. Stauffenberg erhält in der Bendlerstraße den Besuch eines früheren Kameraden von der Berliner Kriegsakademie, Oberst i.G. Eberhard Finckh. Er erklärt seinem Besucher, die Lage im Osten sei katastrophal, die Invasionsfront könne auf Dauer nicht gehalten werden und die Personal-Ersatzlage sei so, "daß in Kürze Schluß ist". Dann fährt er fort:

"Wir haben ja keine richtigen Marschälle mehr! Alle haben die Hosen voll. Sie wagen nicht dem Führer zu widersprechen, wenn er etwas befiehlt. Sie bringen ihre Ansichten über den Ernst der Lage nicht genügend zur Geltung. Es geht jetzt nicht mehr um den Führer, nicht um das Vaterland, nicht um meine Frau und meine vier Kinder; sondern es geht jetzt um das ganze deutsche Volk."

29. Juni 1944. Oberst Graf Stauffenberg wird zum Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Er darf nun hoffen, in Zukunft öfter das Führerhauptquartier betreten zu dürfen. Er ist seit drei Wochen fest entschlossen, das geplante Attentat auf Hitler selbst auszuführen, da er sonst in der Verschwörung niemanden dafür gefunden hat. Sein Freund Fritz-Dietlof Schulenburg ist skeptisch, ob der Anschlag auf den Diktator noch gelingen kann, bevor die Abwehrfronten endgültig auseinanderbrechen, denn inzwischen ist die Heeresgruppe Mitte im Osten überrannt worden. Er schlägt vor, daß sich der engste Kreis der Verschwörer durch einen unverbrüchlichen "Schwur" verbindet, um den Widerstand auch nach einem Scheitern des Attentats oder nach totaler Besetzung Deutschlands durch die Feindmächte fortzusetzen. Sein Vorschlag lautet:

"Wenn es nicht mehr gelingen sollte, zur Tat zu kommen, so muß man sich einen Eid geben und zu einem Orden zusammenschließen, um nach dem Zusammenbruch Deutschlands in der dann von allen Seiten einbrechenden Fremdherrschaft ohne äußeres Band eine Gruppe von Männern zusammenzuhalten, die voneinander weiß und unverrückbar am Vaterland festhält."

2. Juli 1944. Entsprechend dem Schulenburg-Vorschlag versammeln sich in der Tristanstraße die beiden Brüder Stauffenberg, Fritz-Dietlof von der Schulenburg, Oberst i.G. Mertz von Quirnheim, Hauptmann Klausing und Oberleutnant von Haeften, Stauffenbergs Ordonnanzoffizier, um gemeinsam einen Widerstands-"Schwur" zu leisten. Der Text dieses Eides beginnt mit den Worten:

"Wir glauben an die Zukunft der Deutschen", und er endet "Wir verbinden uns zu einer untrennbaren Gemeinschaft, die durch Haltung und Tat der Neuen Ordnung dient und den künftigen Führern die Kämpfer bildet, deren sie bedürfen.

Wir geloben: untadelig zu leben –gewissenhaft zu dienen – unverbrüchlich zu schweigen – und füreinander einzustehen."

5. Juli 1944. Trott zu Solz, aus Stockholm zurück, berichtet Stauffenberg, daß seine britischen Gesprächspartner nichts Substantielles von sich gegeben hätten. Er zeigt dem Oberst Flugblätter des "Nationalkomitee Freies Deutschland" und des "Bundes Deutscher Offiziere", also von antifaschistischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Stauffenberg winkt ab:

"Von Proklamationen hinter Stacheldraht kann ich nicht viel halten!" Dann überfliegt er aber doch die schwarz-weiß-rot umrandeten Flugblätter und sagt: "Die betreiben Landesverrat. Ich betreibe Hochverrat."

"Die NS-Führung hat überall nur Haß gesät"

13. Juli 1944. Stauffenberg stellt die letzte Fassung einer Erklärung fertig, die den Titel "Aufruf an die Wehrmacht" trägt. Er hat das Papier mit Generaloberst Ludwig Beck, der nach dem Umsturz Reichsverweser werden soll, mit Leber, Mertz und Schulenburg beraten. Sofort nach geglücktem Attentat soll der Text über alle deutschen Sender bekannt gegeben werden. Die ersten Sätze lauten:

"Der gute Glaube der deutschen Soldaten an einen gerechten Krieg zur Wiedergutmachung des Deutschland in Versailles angetanen Unrechts und zur Sicherung der nationalen Unabhängigkeit ist von der NS-Regierung gewissenlos mißbraucht worden, mißbraucht zur Eroberung und zur Ausbeutung unterjochter Länder. Deshalb hat die NS-Führung zu keinem Frieden mit den anderen Völkern kommen können, sondern überall nur Haß gesät."

21. Juli 1944. Nach mißglücktem Attentat werden im Hof der Bendlerstraße, eine Viertelstunde nach Mitternacht, General Olbricht, Oberst i.G. Graf Stauffenberg, Oberst i.G. Mertz von Quirnheim und Oberleutnant Werner von Haeften erschossen. Nach Bekundung zweier Unteroffiziere des Exekutionskommandos fällt Stauffenberg mit dem Ruf: "Es lebe Deutschland!"

 

Zu den abgebildeten Personen: Selbstmord begehen nach dem Scheitern des Attentates: Generaloberst Ludwig Beck, Generalfeldmarschall Hans Günter von Kluge, Generalmajor Henning von Tresckow. Standrechtlich erschossen werden noch am 20. Juli 1944 im Bendlerblock in Berlin: Oberst i. G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Oberleutnant Werner von Haeften, General Friedrich Olbricht, Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim. Am 8. August 1944 in Berlin-Plötzensee an Fleischerhaken erhängt werden Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, Generaloberst Erich Hoepner, Generalmajor Helmuth Stieff, Generalleutnant Paul von Hase, Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Albrecht von Hagen, Friedrich Karl Klausing. Mindestens 200 weitere Widerstandskämpfer werden hingerichtet, etwa 3.000 verhaftet und größtenteils verurteilt. Der NS-Staat nimmt das Attentat ferner zum Vorwand, "vorgemerkte Personen" wegen anderer politischer Verdächtigungen festzunehmen und zu verurteilen (daraus entstand eine Gesamtzahl von 7.000 Verhaftetetn).

 

Dr. Wolfgang Venohr, geboren 1925 in Berlin, war von 1965 bis 1985 Chefredakteur von "stern tv". Autor u. a. von: Fridericus Rex (1985), Stauffenberg (1986), Der Soldatenkönig (1987), Die roten Preußen (1989), Napoleon in Deutschland (1991), Ludendorff (1993), Patrioten gegen Hitler (1994).


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen