© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Ausstellung: Barbara Klemm präsentiert "Unsere Jahre 1968–1998" im Deutschen Historischen Museum
Das Fotoalbum der Bonner Republik
Frank Philip

Oft schon wurde beklagt, daß über die späte Bundesrepublik bis heute kein bedeutender Gesellschaftsroman geschrieben worden sei. Kein Werk läge vor, in dem Lebensgefühl und Lebensstil, auch die Sitten, kurz: der Zeitgeist plastisch dargestellt und aufs Engste mit dem Lauf der Geschichte verwoben sei. Kein Werk, das als literarischer Schlüssel den Zugang zu der Epoche nach 1968 liefern könnte. Vielleicht ist es die Übermacht der Bilder, der visuellen Reize, die es dem Schriftsteller heute unmöglich erscheinen läßt, die Epoche mit Worten zu fassen.

Die Jahre nach der Studentenrevolte zeichnet eine Entfremdung von der eigenen Geschichte aus. Am Schluß dieser Entwicklung steht die "Totalherrschaft der Gegenwart" (Botho Strauß). Der Gesellschaftsroman jedoch benötigt eine gewisse weltanschauliche Geschlossenheit, um sich entfalten zu können. Heute existiert keine homogene deutsche Gesellschaft mehr, höchstens Bruchstücke einer solchen. Das "Ganze" ist kaum noch mehr als die Summe der Einzelteile, sobald diese kein gemeinsames Denken und Fühlen mehr verbindet. Und die heutigen Zeitromane? Die simple Reihung individueller Lebensgeschichten, eingebettet in ein Gewirr von Nachrichten, eine solche Aufzählung allein ergibt noch kein Bild einer Zeit, höchstens ein mittelmäßiges Geschichtenbuch.

Mosaik aus Bildern von Deutschland nach 1968

Ein "gültiges" Bild der Zeit ist vermutlich nur noch als ein Mosaik von Bildern möglich. Barbara Klemm, der Hausfotografin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , ist ein solches Gemälde der Gesellschaft gelungen. Das Versäumnis oder Versagen der modernen Literatur kann die Fotokunst nicht vergessen machen, doch Klemms Lebenswerk gibt ein wesentlich dichteres Bild von Deutschland nach 1968, als entsprechende Versuche der modernen Literatur es bislang entwerfen konnten.

Während dreißig Jahren hat Klemm den Strom der Geschichte nach den Augenblicken des Sieges und der Niederlage durchfischt. Sie kann ohne Übertreibung als Hof-Fotografin der Bonner Prominenz bezeichnet werden. Aus ihrer Dunkelkammer stammt das offizielle Fotoalbum der deutschen Politik, die Galerie der Kanzler, Präsidenten, Minister. Die meisterhaft komponierten Fotografien zeigen die Mächtigen im Licht der Scheinwerfer wie in nachdenklichen Momenten, wenn sie sich unbeobachtet fühlen und daher die Maske sinken lassen. Aber nicht nur die Bühne der Polit-Prominenz ist Klemm vertraut. Mit scharfem Blick sucht sie ihre Motive überall dort, wo Menschen sich zusammenfinden, ob bei der Arbeit, auf der Straße, im Park oder am heimischen Küchentisch.

Im Kronprinzenpalais an der Berliner Prachtstraße "Unter den Linden" zeigt das Deutsche Historische Museum die Ausstellung "Unsere Jahre, Bilder aus Deutschland 1968–1998" mit mehreren hundert Fotografien von Barbara Klemm. Die erste Abteilung ist unter der Überschrift "Politik als Beruf" zusammengefaßt. Vom Podium des Saarbrücker CDU-Parteitags 1971 blickt Ehrhard, seinen massigen Schädel wie zum Angriff gesenkt. Rundherum paffen Barzel und Kiesinger lange Zigarren. Der politische Gegner qualmt nicht weniger, allerdings bevorzugt er die Pfeife, wie eine Aufnahme vom SPD-Parteitag in Dortmund nahelegt. Keine glatten Polit-Entertainer, sondern leidenschaftliche Staatsmänner waren der Bundesrepublik damals geschenkt.

Ende der siebziger Jahre änderte sich mit dem Abgang der Alten der politische Stil. Statt heftiger Debatten über Deutschlands Zukunft veranstalteten die Jungsozialisten auf ihren Parteitagen so etwas wie verbale Kissenschlachten. Von der Gründungsversammlung der Grünen gewinnt man den Eindruck, es handle sich um eine Studenten-Stehparty mit Diavortrag. "Grüne damals" und "Fischer heute", diese beiden Bilder sagen mehr über den Wandel der Partei als tausend wissenschaftliche Abhandlungen. Die Aufnahmen von der Wahlnacht 1998 sind noch frisch im Gedächtnis: Kohl und seine Mannen kommen mit versteinerten Mienen auf die Pressekonferenz, während Schröder aussieht, als wolle er die ganze Welt umarmen.

Nachhaltiger als durch die offizielle Politik wurde der Zeitgeist ab 1968 durch die Studentenbewegung geprägt. Zu Tausenden gingen die Studenten auf die Straße, anfangs noch mit kurzem Haarschnitt und im Anzug, dann mit immer längeren Haaren und immer weniger Anzug. Die Erfolge der NPD fallen in dieselbe Zeit, ein Zufall, der keiner ist. Die Fotografin findet hier wie dort lohnende Motive – nicht immer frei von gängigen Klischees –, hier die Straßenkämpfe und Blockaden der Studenten, dort die fetten Bäuche der NPD-"Saalschützer".

Welche Gesichter hat der "Standort Deutschland"? Klemm geht in die Fabriken und Fertigungshallen, mischt sich unter Streikende. Sie geht zu Gewerkschaftsversammlungen und IHK-Empfängen. Wohl eines der letzten Pferdegespanne der deutschen Landwirtschaft trifft sie Ende der siebziger Jahre in Oberhessen. Dann das Kapitel Gastarbeiter: zunächst einzeln und in Grüppchen, dann kamen ganze Familien und Dörfer. In Frankfurt oder Berlin waren rein südländische Schulklassen bald keine Seltenheit mehr. Beunruhigend auch die Aufnahme aus einem Berliner Park, dessen Wiesen ausnahmslos von türkischen Großfamilien bevölkert sind.

Und der "andere deutsche Staat"? Barabar Klemm bereiste häufig die "Zone". Grenzanlagen, Mauer und Stacheldraht gewinnt sie ästhetische Qualitäten ab. Die Zeit steht still, obwohl Honecker mit knarzender Stimme den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus" verkündet hat. Eine Aufnahme ist symptomatisch für die Behandlung des Menschen durch den DDR-Staat: Einen kleiner Junge hängt, dem Heulen nahe, in der Turnhalle der "Deutschen Hochschule für Körperkultur" in Leipzig schlapp an zwei Seilen mit Ringen. Der Staat und seine Institutionen vergewaltigen den jungen Menschen, drillen ihn zu Leistungen, die er nicht erbringen kann. Bei den Weltjugendfestspielen 1973 in Ost-Berlin ist das Ergebnis dieser Erziehung dann zu bestaunen: athletische Körper in Reih‘ und Glied. Man ordnet sich ein und schwingt bei den FDJ-Paraden Fähnchen zum 30. Jahrestag der DDR. Welch ein Kontrast zur Westjugend!

Die Öffnung der Grenze und der Fall der Mauer dokumentiert Klemm mit bewegenden Bildern. Am 9. November stürmt die Menge unter Freudengeschrei das häßlichste Bauwerk der Welt. Menschen aus Ost und West fallen sich in die Arme, bekümmerte Gesichter dagegen bei einer der letzten Kundgebung der FDJ. Egon Krenz und die SED-Führung ballen im Lustgarten in Berlin zwar die Fäuste und versuchen, die eigene Angst durch lautes Singen zu verbergen. Die Einheit können sie nicht mehr verhindern!

Klemms Bilder gehören mittlerweile zur kollektiven Erinnerung der Deutschen. Die Fotografin dokumentiert nicht nur, sondern interpretiert die Ereignisse durch die Wahl des Blickwinkels, des Ausschnittes und der Lichtverhältnisse. Ihre Arbeiten sind nicht bloß stumme Zeugen, sondern selbst ein Teil der Geschichte des leisen Übergangs von Bonn nach Berlin.

Achtundsechziger trauern um das Bonner Idyll

Der Titel der Ausstellung allerdings wurde, man spürt es, von den Sachwaltern der alten Republik ersonnen. "Unsere Jahre. Bilder aus Deutschland 1968 –1998", das klingt hartnäckig nach 68er-Demonstrantenromantik. Der rebellische Geist der Revolte bezog seinen Antrieb aus der Ablehnung der verklebten Gemütlichkeit der Bonner Republik. Gleichzeitig aber waren die Studenten die Vollstrecker dieser Republik, die Zerstörung traditioneller Hierarchien erschien letztlich nur als die radikale Konsequenz der Kriegsniederlage. "Unsere Jahre" – ein stiller Abgesang auf die Bonner Republik, die sich wie Gummi in den Händen der durch die Institutionen Marschierenden kneten ließ. Beides, Nachkriegsrepublik wie Studentenrevolte, sind nun definitiv Geschichte. Das Ende der einen wurde mit dem Fall der Mauer eingeleitet, die 68er-Studenten haben sich bei der Bundestagswahl im September letzten Jahres zu Tode gesiegt. Waren die vergangenen dreißig Jahre "ihre" Zeit, wem gehört dann die Zukunft? Einer neuen Generation?

Die Ausstellung ist bis zum 5. Oktober im Deutschen Historischen Museum in Berlin täglich außer mittwochs von 10 bis 18 Ur zu sehen. Der Katalog enthält 250 Abbildungen und kostet im Museum als broschierte Ausgabe 42 DM.


 
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