© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Kriegführung: Das elektronische Netzwerk verändert globale Strategien
Blitzkrieg der Informationssysteme
Michael Wiesberg

Der Einfluß der Hochtechnologie auf militärische Konflikte in den nächsten Jahrzehnten wird nach den Worten von Martin Libicki, Mitarbeiter am Institute for National Strategic Studies (INSS) in Washington, als "große Ironie" bezeichnet werden müssen. Im gleichen Maße, wie die politische Motivation für die Entwicklung militärischer Technologie nachlassen wird, wird der Einsatz der Informationstechnologie in militärischen Konflikten steigen. Über die Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels hat Libicki eine Studie mit dem Titel "The Mesh and the Net" (etwa: Das militärische und das zivile elektronische Netzwerk) verfaßt.

Der amerikanische Analytiker Alvin Toffler bezeichnete diesen Paradigmenwechsel als "dritte Welle". Als erste Welle charakterisierte Toffler die agrarwirtschaftliche Ära, auf die als zweite Welle die industrielle gefolgt sei. Das Industriezeitalter werde nun durch das Informationszeitalter abgelöst, das Toffler als "dritte Welle" deutet. Diese Welle ist aus der Sicht Tofflers durch die Möglichkeit gekennzeichnet, in kurzer Zeit große Mengen an Informationen zu erlangen, die durch Computer analysiert und zeitgleich an viele Nutzer weitergegeben werden können.

Diese Revolution in der Informationstechnologie wird das Gesicht zukünftiger Kriege und deren Genese grundsätzlich verändern. Seit dem Golfkrieg im Jahre 1991 wird die Kriegführung mittels elektronischer Informationssysteme in den USA in aller Breite diskutiert. Laut dem ehemaligen Verteidigungsminister Perry hat bereits der Golfkrieg gezeigt, daß militärische Operationen mittels moderner Informationssysteme über den Erfolg einer militärischen Operation entscheiden können.

In den Konzeptionen des amerikanischen Verteidigungsministeriums nimmt die Informationstechnologie deshalb mehr und mehr einen zentralen Stellenwert ein. Die Soldaten sollen in Zukunft durch Computer in die Lage versetzt werden, Informationen über ihre Feinde über den Bildschirm abrufen zu können. Sie sollen aufgrund dieser Informationen ihre Waffen einsetzen können, ohne mit dem Feind überhaupt noch in Berührung zu kommen. Libicki spricht in diesem Zusammenhang davon, daß über das Schlachtfeld der Zukunft ein elektronisches Netz (engl. "Mesh") geworfen wird.

Informationssysteme sind notwendig für Sicherheit

Dieses Szenario zeigt, daß das Informationszeitalter nicht nur den zivilen Bereich revolutioniert, sondern auch und gerade den militärischen. Dessen Auswirkungen können nach den Worten von Robert Steele, einem früheren Mitarbeiter des CIA und jetzigen Präsidenten der Open Source Solutions Incorporation (OSS) nicht weit genug gefaßt werden.

Zur Erläuterung: Die OSS hat sich zum Ziel gesetzt, so etwas wie eine nationale Sicherheitsstrategie für die elektronischen Informationssysteme zu formulieren. Steele hat sich durch eine Reihe von Arbeiten zum Thema Informationstechnologie einen Namen gemacht. Seiner Auffassung nach werden künftige kriegerische Auseinandersetzungen mit einem Krieg, der mit konventionellen Waffen ausgefochten wird, in keiner Weise mehr vergleichbar sein. So stellte Steele beispielsweise in einer Rede auf der 2. Konferenz zum Thema "Kriegführung mittels moderner Informationssysteme" im Januar 1995 fest, daß wir alles vergessen müßten, was wir bisher über Kriegführung gelernt hätten. Dies gelte insbesondere für die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden, Verbündeten und Feinden, zwischen Kriegswaffen und Nachschubwesen. Steele ist sich mit vielen anderen Analytikern sind sich einig, daß sich das Gesicht zukünftiger militärischer Konflikte durch die Informationstechnologie vollkommen verändern wird. Sich dessen bewußt zu sein und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, macht einen wichtigen Teil des derzeitigen militärischen Vorsprungs der USA aus.

Regierung und Militär sind sich darüber einig, daß die USA alle militärischen und nichtmilitärischen Kräfte aufbieten müssen, wenn sie im Krieg der Informationssysteme in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts die Nase vorne haben wollen. Laut Steele darf es bei dieser technologischen Umwälzung keine Denkblockaden geben. Es ist aus seiner Sicht unproduktiv, die Diskussion auf den Komplex "elektronische Kriegführung" begrenzen zu wollen. Der Feind könne in Zukunft nicht durch irgendwelche Grenzen aufgehalten werden, weil es elektronisch gesehen eben keine Grenzen mehr gebe. Nichts sei heute mehr sakrosankt.

Diese Ausgangslage bedeutet insbesondere für die U.S. Army ein Umdenken, das am eigenen Selbstverständnis rüttelt. Die U.S. Army entfaltete ihre militärischen Möglichkeiten bisher dann am effektivsten, wenn sie einem Feind gegenüberstand, der klar definiert und strukturiert war. Im Zeitalter der elektronischen Kriegführung wird ein derartiger Feind aber der Vergangenheit angehören. Statt dessen wird im Rahmen der Diskussion um zukünftige Bedrohungsszenarien von amorphen, nicht greifbaren Feinden ausgegangen. Dieser Typ Feind wird in der Fachsprache als "asymmetrische Bedrohung" bezeichnet.

In der internationalen Politik bezeichnet "Asymmetrie" eine ungleichmäßige Beziehung oder Machtrelation zwischen individuellen oder kollektiven Akteuren. Um noch einmal aus der Rede von Robert Steele zu zitieren: Staaten mit teuren Waffensystemen, die gewaltige Anstrengungen an Wartung und Nachschub erfordern, entsprechen von ihrem militärischen Zuschnitt her dem traditionellen Verständnis. Aus der Sicht Steeles entwickelt sich das Spiel der Kräfte weg von wohlorganisierten militärischen Kräften, die durch Steuererhebungen und Wehrpflicht gekennzeichnet seien, hin zu selbständigen elektronischen Akteuren, die kaum Kosten verursachen und selbständig im Cyberspace operieren. In diesem Zusammenhang unterscheidet Steele drei mögliche Gruppen von Akteuren oder besser: elektronischen Terroristen. Einmal den "low-tech-brute", einen Gelegenheitskriminellen, der aufgrund seiner unkonventionellen Vorgehensweise jedem Nachrichtendienst erhebliche Probleme bereitet. Dann den "low-tech-seer", worunter Steele insbesondere religiöse Fanatiker versteht, deren destruktive Energie für jede militärische Organisation eine massive Herausfoderung darstellt. Die letzte Gruppe ist aus der Sicht Steeles die bedrohlichste. Zu dieser Gruppe zählt Steele Gruppierungen, die die elektronische Kriegführung aus finanziellen oder politischen Motiven heraus betreiben. Diese Agenten treten gegen komplexe elektronische Systeme an, die derzeit unmöglich lückenlos verteidigt werden können. Genau diese elektronischen Terroristen hatten Generalleutnant Paul K. van Riper und Generalmajor Robert H. Scales im Blick, als sie anläßlich der 9. Strategischen Konferenz, ausgerichtet vom U.S. Army War College, zu dem Schluß kamen, daß die USA in einem konventionellen Krieg nicht besiegbar seien. Wohl aber seien die USA gegenüber einer "asymmetrischen Bedrohung" (durch eben jene elektronischen Terroristen) derart verwundbar, daß eine "asymmetrische" Attacke zu einer empfindlichen Niederlage führen könnte.

Elektronische Angriffe sind Bestandteil des Krieges

Steeles Auffassungen werden vom Verteidigungsministerium im Bericht der Unterabteilung für Beschaffung und Technologie im Verteidigungsministerium (1995) bestätigt. Dort wird festgestellt, daß die Welt durch eine Reihe von destabilisierenden Faktoren gekennzeichnet sei. Aus Sicht der USA seien diese Faktoren schwierig zu analysieren. Auch dieser Bericht prognostiziert für die Zukunft grundsätzlich andersartige militärische Konflikte als die bisher bekannten. Insbesondere wird die Furcht vor kriminellen Akteuren geäußert, die in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen könnten.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, wenn Bradlex Graham in der Washington Post vom 21. Februar 1995 feststellt, daß militärische und zivile Vertreter des Verteidigungsministeriums mit steigender Intensität darauf hinwiesen, daß sich die USA in einer Phase befänden, in der die Kriegführung und der militärische Sektor einer grundsätzlichen Revolution unterworfen würde. Die Auswirkungen dieser Revolution sind bereits im Hinblick auf die Waffensysteme und die US-Militärdoktrin spürbar.

Die USA verwerten die Informationstechnologie wie keine andere Nation auf der Erde. Informationstechnologie, übersetzt in militärische Stärke wie in der Zeit des Golfkrieges, bedeutet eine massive Herausforderung für das traditionelle Konzept des Machtgleichgewichtes zwischen den Nationen. Konsequenterweise hat das Pentagon seine Vorstellungen über eine elektronische Kriegführung seit dem Golfkrieg weiterentwickelt. Führend beteiligt an dieser Weiterentwicklung waren der Joint Staff und das Office of the Secretary of Defense (OSD).

Bemerkenswerterweise wird in der Diskussion um die elektronische Kriegführung immer wieder auf das deutsche Blitzkriegskonzept verwiesen. So schreibt zum Beispiel Fred Gortler, Major in der US-Luftwaffe, daß der "Blitzkrieg" am besten den operativen Vorteil demonstriere, den eine Nation erzielen könne, wenn sie sich technologische Neuerungen nutzbar mache. Gerade vor dem Hintergrund der oben skizzierten neuen Herausforderungen, so argumentiert Gortler, müsse sich das US-Militär die neuen Informationssysteme nutzbar machen. Die Erkenntnisse, die aus diesen neuen Informationssystemen gezogen würden, müßten mit den tradititonellen militärischen Waffengattungen (Land, See, Luft) koordiniert werden, um feindliche Zentren strategischer und operativer Art durch einen kombinierten Einsatz von Waffen zerschlagen zu können.

Die Bedrohungsszenarien, die die US-Militärs derzeit diskutieren, haben zunehmend transnationale Akteure im Blick, die aufgrund hochentwickelter Informationssysteme die Möglichkeit haben, die militärische Macht der USA empfindlich zu treffen. Diese Anfälligkeit der USA für "asymmetrische Attacken" wird mehr und mehr offen diskutiert. Skeptisch im Hinblick auf die elektronischen Abwehrmaßnahmen der USA fragt zum Beispiel Gortler, welche Möglichkeiten denn die USA hätten, einen elektronischen Angriff auf die New Yorker Börse abzuwehren.

Kategorisch fordert er dazu auf, daß sich die USA jetzt auf derartige Möglichkeiten einrichten müßten. Das US-Militär müsse der nachrichtendienstlichen Aufklärung im Zeitalter der elektronischen Kriegführung absolute Priorität einräumen. Informationen seien der Kraftstoff für informationsbasierte Systeme, die von hoher Bedeutung seien, weil die moderne Kriegführung ein erheblich größeres Maß an präzisen nachrichtendienstlichen Informationen verlange als die konventionelle Kriegsführung. Die US-Nachrichtendienste müßten in die Lage versetzt werden, sich Informationen über jeden Staat, jede Gruppe oder jedes Individuum zu beschaffen, fordert Gortler.

Europäische Waffen sind technologisch veraltet

Noch konkreter wird mit Blick auf das 21. Jahrhundert der genannte Martin Libicki, der acht Szenarien zukünftiger Konflikte beschreibt: Neben der konventionellen Kriegführung spricht er unter anderem den Gebrauch von Informationssystemen gegen virtuelle Gegner ("Cyberwar"), die softwaregesteuerte Kriegführung gegen militärische und zivile Informationssysteme möglicher Feinde ("Hackerwar") und die ökonomische Kriegführung mittels Manipulation von Daten an, die im internationalen Handel ausgetauscht werden.

Während in den USA die Diskussion über die "Zukunft des Krieges", so der Titel eines in den USA erschienenen Buches von George und Meridith Friedman, voll entbrannt ist, ist ähnliches aus Europa (von Deutschland ganz zu schweigen) nicht zu vernehmen. Der dramatische Rückfall Europas in der Militärtechnologie – die Friedmans sprechen ganz offen von der Veralterung ("Senility") der europäischen Waffensysteme – bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger als den weiteren Ausbau der amerikanischen Hegemonie über Europa. Eine Hegemonie, die die politische und militärische Nachrangigkeit Europas gegenüber den USA Tag für Tag deutlicher werden läßt.


 
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