© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Neomarxismus und Philosophie : Vor 20 Jahren starb mit Herbert Marcuse der Utopist der Neuen Linken
Ersatzvater für die Kinder der Revolution
Werner Olles

Aber ich glaube, daß es für unter drückte und überwältigte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltsamkeit zu predigen."

Es waren gerade diese wenigen Sätze über die "repressive Toleranz" aus "Kritik der reinen Toleranz", die auf die Studentenbewegung von 1968 wohl den nachhaltigsten Eindruck ausübten. Bereits im Mai 1966 hatte Herbert Marcuse, Professor für Sozialphilosophie an der University of California in San Diego, auf dem Kongreß "Vietnam – Analyse eines Exempels" an der Frankfurter Universität auf Einladung des SDS das Hauptreferat gehalten. Hier stellte er vor 2.200 Teilnehmern fest, daß "alle Dimensionen der menschlichen Existenz privat und öffentlich den herrschenden gesellschaftlichen Mächten ausgeliefert" sind und das System äußere Faktoren nicht mehr kenne: "Die Innenpolitik, deren Fortsetzung die Außenpolitik ist, mobilisiert und kontrolliert das Innere der Menschen, die Triebstruktur, ihr Denken und Fühlen, sie kontrolliert die Spontaneität selbst – und entsprechend diesem globalen und totalen Charakter des Systems ist die Opposition ... nicht nur und nicht primär politisch, ideologisch, sozialistisch (…) Vorherrschend ist die spontane Weigerung der oppositionellen Jugend mitzumachen, mitzuspielen, ein Ekel vor dem Lebensstil der ’Gesellschaft im Überfluß‘ (…) Nur diese Negation ist artikuliert, nur dieses Negative ist die Basis der Solidarität, nicht aber das Ziel: sie ist die Negation der totalen Negativität, die das System der ’Gesellschaft im Überfluß‘ durchzieht."

Dutschke verteidigte die Haltung des Intellektuellen

Im Juli 1967 hielt Marcuse im mit 3.000 Hörern völlig überfüllten Auditorium maximum der Freien Universität in West-Berlin seine vierteilige Vortragsreihe "Das Ende der Utopie". Immer wieder vom Beifall der Studenten unterbrochen, erläuterte der dissidente Denker des Neomarxismus hier noch einmal seine Positionen über "Das Problem der Gewalt in der Opposition". Am dritten Abend diskutierten unter der Leitung von Jacob Taubes die SDS-Mitglieder Hans-Jürgen Krahl, Rudi Dutschke, Peter Furth und Wolfgang Lefävre und die sozialdemokratischen Hochschullehrer Richard Löwenthal und Alexander Schwan mit Marcuse über das Thema "Moral und Politik in der Überflußgesellschaft", am vierten und letzten Abend diskutierten Marcuse, Dutschke, Peter Gäng, Bahman Nirumand und Klaus Meschkat über "Vietnam – Die Dritte Welt und die Opposition in den Metropolen." Vor allem Marcuse versuchte eine Klärung der Frage herbeizuführen, welche Rolle Intellektuelle im Prozeß der in den Metropolen entstandenen Befreiungsbewegungen spielen können. Er sah ihre Aufgabe in der Aufklärung als "Verbindung von Theorie und politischer Praxis" und proklamierte eine "Gegenpolitik zur herrschenden Politik."

Fast ein Jahr später schlug ihm – wiederum im Audimax der Freien Universität – der geballte Unmut der Studenten entgegen, als er nach seinem Referat über "Geschichte,Transzendenz und sozialer Wandel" den Aktivisten der Neuen Linken unmißverständlich klarmachte, daß er nicht daran denke, unmittelbar Ratschläge für eine revolutionäre Praxis zu erteilen und sich auch nicht daran beteiligen wolle. Rudi Dutschke hat später sein Verständnis für diese Haltung Marcuses geäußert und ihn gegenüber den radikalen Studenten, die auf eine eindimensionale Zuspitzung zum Bürgerkrieg setzten, vehement verteidigt.

Herbert Marcuse, diese geniale Mischung aus "Marx, Freud und Jesajah", Denker des Eklektizismus, Subjektivist und Neomarxist, Vaterfigur der 68er-Kulturrevolution wurde am 19. Juli 1898 in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus in Berlin geboren. Als Mitglied der SPD den vitalistischen Strömungen der Jungsozialisten und der Sozialistischen Jugendbewegung nahestehend, trat er nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs aus der SPD aus und in die USPD ein. 1918 war er Mitglied im Soldatenrat in Berlin-Reinickendorf. Marcuse studierte in Berlin und Freiburg, wo er 1922 mit einer Dissertation über Schiller promovierte. An der Freiburger Universität war er auch eine Zeitlang Assistent von Martin Heidegger. Sein konservativer Hintergrund kam jedoch eher von einer gewissen Prägung durch Hans Freyer, dessen "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" Marcuses Werk "Der eindimensionale Mensch" stark beeinflußt hat. Pedro Domo weist in "Herrschaft und Geschichte. Zur Gesellschaftstheorie Freyers und Marcuses" ebenso auf den lebenslänglichen Einfluß Freyers auf Marcuse hin wie Wolfgang Trautmann in "Gegenwart und Zukunft der Industriegesellschaft. Ein Vergleich der soziologischen Theorien Hans Freyers und Herbert Marcuses".

Hinzu kam noch die Schiller-Verehrung, die in der sozialistischen Jugendbewegung der Jahrhundertwende obligatorisch war und möglicherweise Marcuses feudale Verachtung der Wissenschaften, der Technik und der Demokratie erklärt. Kolakowski hat ihn einmal als den "Propheten eines romantisierenden Anarchismus in seiner irrationalsten Gestalt" bezeichnet.

In der Tat propagierte Marcuse einen "Sozialismus der Müßiggänger", und bei seiner Suche nach einem revolutionären Subjekt nach dem Ende des Marxismus und dem Ende des Fortschritts trafen die wohlsituierten Mittelschicht-Intellektuellen und politisierten Teile des Lumpenproletariats auf diesen Ideologen des Obskurantismus, der in einer Symbiose aus Marx und Freud die Utopie der Neuen Linken entwickelte. Marcuse verstand Marx jedoch vormarxistisch als Soziologen und nicht als Wirtschaftswissenschaftler und Freud als "skeptischen Aufklärer". Beides zusammen ergab dann jene Ideologie, die bestens mit der relativen Unernsthaftigkeit des ewigen Studentenlebens korrespondierte.

Cohn-Bendit diffamierte Marcuse als CIA-Agenten

Herbert Marcuse hatte die Weimarer Republik bereits 1932 aufgegeben und war in die Vereinigten Staaten emigriert. Hier wurde er zum Berater für psychologische Kriegsführung im Office of Strategic Services (OSS), der militärischen Vorläuferorganisation der CIA. Aus dieser Zeit stammen auch die jüngst erschienenen "Feindanalysen". Seine OSS-Vergangenheit veranlaßte Daniel Cohn-Bendit einmal dazu, ihn in Rom als CIA-Agenten zu diffamieren, was objektiv falsch war.

Später lehrte er an der Kalifornischen Staatsuniversität in San Diego Philosophie und lebte in La Jolla, Kalifornien. Im Alter von 81 Jahren starb Herbert Marcuse am 29. Juli 1979 in Starnberg an den Folgen eines Schlaganfalls.

Gewiß kann es heute nicht darum gehen, Herbert Marcuse sozusagen für Konservative "wiederzuentdecken". Einmal war das philosophische Denken dieses Neomarxisten viel zu sehr von der Mystifikation der Weltrevolution beeinflußt, wenngleich er in die Arbeiterklasse keinerlei Hoffnungen mehr setzte, sondern vielmehr auf marginalisierte Randgruppen der Gesellschaft vertraute, die sich dem "System" zunehmend zu verweigern hätten.

Zum anderen ist seine Auffassung von der "technologischen Gesellschaft", die er immer als Mittel zur Knechtschaft des Proletariats verstand, welches doch selbst dem kapialistischen System der Bedürfnisbefriedigung und Bedürfniserweiterung in Nachahmung und Anpassung auf Leben und Tod verhaftet war, eine gänzlich defensive. Selbst die Ökonomie ist bei Marcuse immer nur politische Ökonomie, noch die "psychologische Ökonomie" produziert und verwaltet die vom "System" erforderten Bedürfnisse, bis hin zu den Triebbedürfnissen.

Daß der Kapitalismus "das revolutionäre Potential absorbiert hat" und das Zeitalter der proletarischen Revolution endgültig vorbei ist, erklärt aber noch lange nicht, warum "kritische Theorie" und politische Praxis partout nicht zusammenkamen. In der nationalen Unabhängigkeit sah Marcuse jedoch durchaus auch einen positiven Faktor, seine Unterstützung für die national-kommunistische Guerilla in Vietnam enstsprach weitgehend seiner Einschätzung der USA als "historischem Erben des Faschismus". Eine härtere Kritik eines Emigranten an der amerikanischen Politik hatte es wohl bislang nicht gegeben.

Die sowjetische Politik, die mit jener der USA zunehmend konvergierte, bezeichnete er wenig diplomatisch als "schamlos", was ihm den dauerhaften Haß der moskauhörigen Linken einbrachte. Letztlich war er Realist genug um zu erkennen, daß die Neue Linke keine Massenbewegung werden würde, daher begrenzte er seine Thematik weitgehend auf die vieldimensionalen Perspektiven einer dialektischen Theorie, auf die Abschaffung der "Überflußgesellschaft", die psychologisch-sinnliche Bewußtwerdung der Repression in den westlichen Metropolen und die manifest-imperialistische Unterdrückung in der Dritten Welt.

Die Einrichtung einer "Vorzensur" nannte er euphemistisch ein "platonisches Ideal"und die vorübergehende Diktatur der Linken "Erziehung" in der Übergangsepoche zu einer "humanen Gesellschaft". In diesem befriedeten Dasein, in dem Platos Philosophen-Könige unnachsichtig darüber wachen würden, daß nie wieder Krieg, Grausamkeit, Aggression, Dummheit, Brutalität und Rassismus ihre häßlichen Häupter erheben dürfen, sah er die utopischen Möglichkeiten einer wahrhaft freien Gesellschaft realisiert, was die innere Spaltung dieses subversiven Denkers verdeutlicht.

Max Horkheimer warf Marcuse darauf vor, sich hinter dem Begriff des "neuen Menschen" zu verschanzen, und echauffierte sich gewaltig über die Dominanz des Lustprinzips und die naive Vorstellung, eine Massengesellschaft könne ohne jeglichen Zwang existieren.

Was von Herbert Marcuse bleiben wird, ist vor allem seine Entlarvung der vielgerühmten technologischen Rationalität als Ausdruck von Willkür und einer manifesten Tendenz zum Totalitarismus. Seine These, "die Technologie liefere die große Rationalisierung für die Unfreiheit des Menschen" hat bis heute nichts von ihrer Aktualität und Realität verloren und steht so exemplarisch für das Leben und Denken eines Philosophen, der die Krise der menschlichen Existenz immer auch als Krise der Philosophie verstand. Seine kritische Idee der "eindimensionalen Gesellschaft", jener Scheinfreiheit, die philosophisch überfrachtet in der "skeptischen Sintflut" zu ertrinken droht, führte kategorische Mißdeutungen ins Feld, an denen gerade die modernen Massengesellschaften immer noch und immer mehr leiden.

Horkheimer kritisierte die Dominanz des Lustprinzips

Marcuses "große Verweigerung" war jedoch ohne konkretes Gegenbild zur Eindimensionalität der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht in der Lage, eine Lebenswelt zu bezeichnen, die dem einzelnen Inidividuum ein Spektrum an Möglichkeiten anbieten konnte, das wirklich der "restlosen und radikalen Vernichtung der Bedürfnisentwicklung in der Dimension des menschlichen Bewußtseins" (Hans-Jürgen Krahl) Einhalt gebieten konnte.

Das war wohl die größte Schwäche dieses Eklektikers, die sich auch im kollektiven Emanzipationskampf der Neuen Linken – mit dem Marcuse immer sympathisierte – nicht korrigieren ließ, weil die tagtäglichen Widersprüche des spätkapitalistischen Systems sich nicht mehr im Bewußtsein der Massen spiegelten und die Subtilität der Herrschaftsverhältnisse letztlich die psychologische Konstitution der Menschen bestimmte.

So trug die repressive Gemeinsamkeit und innere Übereinstimmung des "subjektiven Faktors" mit der Handhabung der unmittelbaren Klassenwirklichkeit im komplizierten Machtsystem anonym-technokratischen Zuschnitts wesentlich zum Scheitern der 68er-Bewegung bei.


 
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