© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Finanzwirtschaft: Das Wachstumssegment der Frankfurter Börse in der Neuemissionsflut
Geldmaschine Neuer Markt
Susanne Henrici

Glaubte man zu Jahresbeginn den Schlagzeilen der Börsenpresse, dann war in der ersten Euro-phorie so nebenbei die Geldmaschine für jedermann erfunden worden. Am Neuen Markt (NM), dem Börsensegment für kleine, wachstumsstarke High-Tech-Firmen, explodierten die Kurse. Nach acht Wochen konnte mancher Kleinaktionär sich über Steigerungen von bis zu 300 Prozent freuen. Wer sich in der Herbstkrise 1998 preiswert und reichlich mit Dividendenpapieren von EM-TV, Mobilcom, Heyde, Micrologica, Teles und Edel Music eingedeckt hatte, verfügte vielleicht sogar über die Mittel, um Ernst Jüngers Devise zu folgen: Nach dem 45. Lebensjahr sollte man nur noch seinen Passionen frönen.

Anfang März, zum zweijährigen NM-Geburtstag, war die Party jedoch erst einmal zu Ende. Von knapp 4.000 Punkten rauschte der NM-Index um fast 1.000 Zähler nach unten. Manche High Flyer stürzten binnen weniger Tage in den Keller. Katerstimmung war angesagt. Analysten entdeckten plötzlich die "Überbewertung" der meisten Titel. Die Börsenkapitalisierung vieler Firmen stehe in keinem Verhältnis zu Umsatz und Ertrag. Allein bei den Schwergewichten, dem Münchner Filmhändler EM-TV und der Schleswiger Telekom-Konkurrenz Mobilcom, übertraf der Börsenwert den Umsatz locker um das 30fache. Doch nicht nur diese Besinnung auf das mitunter ernüchternde Zahlenwerk der Geschäftsberichte verursachte Höhenangst und ließ die Kurse purzeln. Denn mit dem Aachener IT-Dienstleister Hancke & Peter kam Ende Januar der Vorbote einer wahren Neuemissionsflut an den NM. Seitdem verlängerte sich der Kurszettel allwöchentlich. Statt des exklusiven Klubs von 50 (Ende 1998) werben jetzt 125 Firmen um Anlegerkapital. Ob das spärlicher fließt, ist umstritten. Zumindest das ausländische Kapital, das die Kurse trieb, suchte und fand seit dem Märzeinbruch lukrativere Investments. Und die heimischen Anleger waren bald nicht mehr bereit, jede Neuemission zu zeichnen. Die Aufnahmefähigkeit des NM schien erschöpft. Bei vielen Neulingen erreichte die Erstnotiz deshalb nicht einmal den Emissionspreis. Ausnahmen wie der Nürnberger Internet-Broker Consors, die "Käpt´n Blaubär"-Aktie der Ravensburger RTV-Family Entertainment, das Frankfurter Internet-Reisebüro IFAO und die Hamburger Web-Side Profis Kabel New Media, die den glücklichen Zeichnern satte Margen von 200 bis 400 Prozent bescherten, bestätigen die Regel. Neuen Schwung verspricht die Zwei-Klassen-Gesellschaft, in die seit 1. Juli der NM zerfällt. Die Frankfurter Börsen AG faßt die 50 liquidesten Titel jetzt in einem zusätzlichen "NM-Blue-Chip-Index" zusammen. Die Masse der zumeist deutlich unter 200 Millionen Euro Börsenwert notierten Unternehmen landet zumeist in der zweiten Liga.

Um den Andrang der vielen Bewerber zu begrenzen, die für ihren Sprung an den NM schon in den Startlöchern hocken, planen die Börsenmanager überdies, einen Numerus Clausus einzuführen: wer künftig an den NM will, soll mindestens zwei Jahre Börsenerfahrung mitbringen. Die Auswirkungen solcher Reglementierungen auf die Innovationsdynamik der High-Tech-Branche sind schwer abzuschätzen. Im Internet wird schon eifrig diskutiert, ob das Kapital der Fonds nur vor allem in die Kasse der happy few des Blue-Chip-Index gespült werden könnte. Die gering kapitalisierten Zweitligisten würden dann um Expansionschancen gebracht und die in die Warteschleife des Freiverkehrs verbannten Aspiranten zu lange vom wichtigsten Markt für Risikokapital abgedrängt.

Wer hört, wie manche Vorstandsmitglieder davon schwärmen, daß erst die Aufnahme in den NM und der damit einsetzende Kapitalzufluß ein sich selbstnährendes Feuer entfachte und Mittel primär für strategische Akquisitionen eintrug, der dürfte diese Befürchtungen über das unternehmerische Schicksal der "Deklassierten" nicht für abwegig halten. Und die praktische Konsequenz für den Kleinaktionär? Investiert er im Vorgriff auf das erwartete Verhalten der Fondmogule nur noch in NM-Blue-Chips? Es trifft sich gut, daß im Bann der US-amerikanischen Zinsängste und eines schwächelnden Dow Jones-Index die Entwicklung in Ruhe abgewartet werden kann. Erhöht die US-Notenbank mehr als einmal die Zinsen, gilt für die NM-Blue Chips: Billiger sieht man sich wieder. Bis dahin dürfte sich abschätzen lassen, ob die NM-Zweitligisten den Mittelwerten des M-Dax oder den vor sich hindümpelnden SMAX-Papieren als börsennotierte Mauerblümchen Konkurrenz machen.

Wer ohne den starren Blick und den engen Horizont des Day Traders, aber auch ohne die Angst vor der häufig beschworenen "Kernschmelze des Weltfinanzsystems" zu einer volkswirtschaftlich-fundamentalen Einschätzung des Phänomens NM in der Lage ist, der wird in der aktuellen Quo-vadis-Phase letztlich auch langfristig anlagerelevante Aspekte nicht übersehen können: Am IM-Index ist abzulesen, daß Deutschland kein technologisches Entwicklungsland ist. Lange bevor die politische Klasse dies mit dröhnenden Forderungen nach einem innovatorischen "Ruck" suggerierte, machten sich nun NM-notierte Aktiengesellschaften fit für denWeltmarkt des 21. Jahrhunderts. Nicht zufällig finden sich die "Urzellen" dieser technologischen Spitzenfirmen in Universitäts-Instituten. Vom Hochschullehrer zum Firmengründer – für den Berliner TU-Professor Sigram Schindler (Teles AG) oder den Saarbrücker Informatiker August Wilhelm Scheer (IDS Scheer AG) war das ein konsequenter Schritt. Das Ingenieurs-Know-how der Aachener TU kommt der Aixtron AG zugute, die heute als Weltmarktführer Produktionsanlagen für Verbindungshalbleiter herstellt. Bei der vielzitierten Revolution, in deren Verlauf in der Beleuchtungsindustrie die Glühbirne durch energiesparende Leuchtdioden ersetzt werden wird, dürfte Aixtron die Avantgarde bilden. Eine scheinbar ebenso simple Neuerung, die Abschaffung des Leitz-Ordners und die denkbar rationellste Bewältigung der Papierflut in Wirtschaft und Verwaltung, steckt in den Dokumenten-Management-Systemen (DMS) von SER Systeme (Neustadt/Wied), Ixos Software (München), CE Computer Equipment (Bielefeld) und Easy Software (Mühlheim). Eine vielleicht spezifische deutsche Lust am Ordnen und Archivieren hat diesen DMS-Schmieden die unangefochtene europäische Marktführerschaft eingetragen, und am Weltmarkt kann man sich allemal sehen lassen. Dies gilt auch für die "Maschinenfabriken" des nächsten Jahrtausends: Mühlbauer, den oberpfälzischen Hersteller von Anlagen zur Fabrikation von SmartCards, für Basler (Ahrensburg), die für Qualitätskontrolle immer wichtiger werdende optische Prüfsysteme produzieren, für Jumptec (Deggendorf), mit deren intelligenten Mini-Gehirnen (Computerboards) jeder Benutzer eines Geldautomaten zumindest indirekt in Berührung kommt, für den Netzwerkkomponenten-Profi Bintec (Nürnberg) und eine NM-Perle wie ADVA-Optical (München), deren Technologie die Übertragungsgeschwindigkeit in Glasfasernetzen erhöht.

Beachtet man die bereits erreichte Wettbewerbsposition dieser und vieler anderer technologisch hochinnovativer NM-Unternehmen in Zukunftsmärkten, setzt man die relativ geringe Marktsättigung in manchen Branchen in Relation zu den immensen Wachstumschanchen, die jährliche Umsatzsteigerungen von 30 bis 50 Prozent verheißen, dann darf man für die "deutsche Nasdaq", die die "Neuen Märkte" in Paris, Brüssel und Amsterdam als europäische Leitbörse für Technologiewerte sowieso schon in den Schatten stellt, auch in ihrer Gestalt als emissionsgeschädigte, aber vom Image der "Geldmaschine" befreite Zwei-Klassen-Börse langfristig sehr positiv gestimmt sein.


 
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