© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Wissenschaft: Viele Akten sind für die zeitgeschichtliche Forschung noch gesperrt
Öffnet die Archive!
Alfred Schickel

Seit Tagen füllen Kommentare und Interpretationen der Aufzeichnungen, die Adolf Eichmann im israelischen Gefängnis angefertigt und der Nachwelt hinterlassen hat, die Politik- und Feuilletonspalten vieler Zeitungen. Viel Erhellendes fiel dabei für die Zeitgeschichtsforschung bislang freilich nicht ab. Es erhebt sich überhaupt die Frage, ob die Wissenschaft von diesen Notizen Neues erwarten kann und ob nicht Eichmanns "literarische" Hinterlassenschaft mehr für die Erben als für die Geschichtsschreibung von Interesse ist.

Einzig die verstrichene Zeit zwischen Niederschrift und Veröffentlichung der Aufzeichnungen mag den Zeithistoriker berühren, kennt er doch weit längere Fristen der Geheimhaltung als 35 bis 40 Jahre, wie sie der aktuelle Fall aufweist. Das bekannteste Beispiel sind die sogenannten Heß-Akten, deren vollständiger Inhalt der Forschung immer noch nicht zur Auswertung freigegeben ist. Und das trotz jahrzehntelangem Ansuchen nach Einsicht in die 1941 angelegten Verhörprotokolle. Recherchen der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) haben ergeben, daß sich Kopien dieser Niederschriften in den Washingtoner National Archives befinden, jedoch auch dort nicht eingesehen werden können.

Dagegen blieb das Warten auf die Freigabe eines anderen brisanten Geheimdossiers bislang völlig vergebens: der sogenannten Tyler-Kent-Akten. Schon ihre Existenz ist weitgehend unbekannt, von ihrem Inhalt ganz zu schweigen. Lediglich die äußeren Umstände waren nicht zu verbergen. Sie ergaben sich aus der überraschenden Verhaftung des amerikanischen Botschaftsangehörigen und Dechiffrierbeamten Tyler Gatewood Kent durch die britische Polizei, obwohl dieser auf Grund seines Diplomaten-Status Immunität besaß. Bestimmte "höhere Interessen" des Staates veranlaßten seinerzeit seinen Dienstvorgesetzten, Botschafter Joseph Kennedy, zur umgehenden Aberkennung des diplomatischen Schutzes und lieferten ihn einem Geheimprozeß vor einem Londoner Gericht aus. Dieses verurteilte ihn zu sieben Jahren Isolationshaft.

Alles geschehen im Sommer 1940, als in Großbritannien Kriegsgesetze galten und Frankreich gerade vor dem Zusammenbruch stand. In dieser höchsten nationalen Not kamen sich offensichtlich US-Präsident Roosevelt und der damalige Unterhausabgeordnete Winston Churchill in dem festen Entschluß nahe, es nach der Niederlage Frankreichs unter keinen Umständen zu einem für Deutschland siegreichen Kriegsende kommen zu lassen. Entsprechend tauschten sie sich insgeheim aus und führten über die US-Botschaft in London eine verschlüsselte Korrespondenz. Von ihr machte sich Tyler Kent heimlich Kopien, um sie als Zeugnisse Roosveelt’scher Kriegspolitik dem US-Senat zuzuspielen und auf diese Weise die im Jahre 1940 anstehende Wiederwahl des Präsidenten zu vereiteln. Dieser Absicht kam Scotland Yard zuvor und nahm den amerikanischen Geheimdienstträger am 20. Mai 1940 fest. Botschafter Kennedy entkleidete ihn angesichts der in der Wohnung Kents vorgefundenen Kopien seiner diplomatischen Immunität und übergab seinen bisherigen Dechiffrierbeamten den britischen Sicherheitsbehörden. Sein "Counselor of Embassy", Herschel V. Johnson, stattete dann am 4. Juni 1940 dem Außenminister Bericht über den "Case of Tyler Kent, former code clerk in the American Embassy, London".

In Washington verschaffte man sich danach einen ungefähren Überblick über den möglichen Umfang des Geheimnisbruchs und klassifizierte entsprechend die verschiedenen Teile der Roosevelt-Churchill-Korrespondenz während der Tätigkeit Kents in London von Oktober 1939 bis Mai 1940.

Was man nicht für "preisgegeben" hielt, nahm man zunächst unter strengen Verschluß. Am 3. März 1970 legten die Washingtoner National Archives eine weitere Geheimhaltung für weitere 30 Jahre fest, so daß man erst nach der Jahrtausendwende vom Inhalt der Tyler-Kent-Akten endgültiges erfahren wird.

Liest man freilich Präsident Roosevelts Verfügung über die Behandlung der ihn betreffenden persönlichen oder vertraulichen Unterlagen, so muß man sich damit abfinden, daß manche Akten "niemals veröffentlicht werden dürfen". Und diese dürften ungleich wichtiger sein als Adolf Eichmanns Gedächtnisnotizen.

 

Dr. Alfred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI)


 
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