© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Philosophie: Zum 125. Geburtstag von Max Scheler
Der Mensch im Kosmos
Volker Kempf

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bildete sich die phänomenologische Bewegung heraus. Diese versucht die Dinge von ihren Ideenkleidern der modernen Wissenschaften zu enthüllen und selbst zu schauen. Dem Gegenstand zugewandt, soll von allem Theoretischen, wie Hypothesen, Beweisführungen und anderswo erworbenem Wissen abgesehen werden. Das Unwesentliche wird ausgeschaltet und das Wesen des Gegenstandes analysiert. In der Zeit des Schweigens von Edmund Husserl (1913–1929) und vor dem Erscheinen von Martin Heideggers epochemachendem Werk "Sein und Zeit" (1927) war Max Scheler (1874–1928) der führende Denker dieser heute noch so wichtigen Strömung.

Scheler hat in seinem nur 53 Jahre währenden Leben ein fulminantes Werk geschaffen. In der Frühphase waren es vor allem Beiträge zur Religionsphilosophie, die mit dem Hauptwerk "Probleme der Religion. Religiöse Erneuerung" (1921) ihren Höhe- und Schlußpunkt finden. Der Erste Weltkrieg versetzte Scheler wie die meisten Deutschen in eine nationale Euphorie. In dieser Zeit legte er Texte vor wie "Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg" (1915), "Der Krieg als Gesamterlebnis" (1916), "Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg" (1916) und "Die Ursachen des Deutschenhasses" (1917).

Als Reaktion auf die Krisensituation des Denkens in der Weimarer Republik mit ihrer Spaltung in rechte und linke Ideologien, bildete sich in den zwanziger Jahren die Wissenssoziologie heraus. Max Scheler gab mit seinem Aufsatz "Wissensformen und die Gesellschaft" 1926 den Anstoß. Er erstellte Regeln, Typen und Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und versuchte, die tatsächlichen Einflußgrößen des zwischenmenschlichen Verstehens und Handelns zu benennen. Die gegensätzlichsten Positionen könnten nebeneinander existieren und zum Ausgleich finden, indem sie anerkennen, daß ihre unterschiedlichen Standpunkte aufeinander bezogen seien und nur in Relation zueinander ein ideologiefreies Bild der Wirklichkeit abgeben könnten – angesichts der hereinbrechenden Barbarei der Nationalsozialisten eine vage Hoffnung. Ähnlich hoffnungsvoll zeigte sich auch Karl Mannheim, dessen 1929 vorgelegte Konzeption von Wissenssoziologie sich bald als die praktikablere durchsetzte.

Für die Erforschung des Alltagswissens ist Scheler durch die Werke Peter Bergers und Thomas Luckmanns weiterhin präsent. Darüber hinaus findet seine Wissenssoziologie wegen ihres interdisziplinären Ansatzes wieder eine vermehrte Beachtung. Am nachhaltigsten wirkte aber Schelers letztes und bekanntestes Büchlein zur philosophischen Anthropologie unter dem Titel "Die Stellung des Menschen im Kosmos" (1928).

Geboren wurde Max Ferdinand Scheler am 22. August 1874 in München. Sein Vater Gottlieb Scheler war Rittergutsbesitzer. Eine feste religiöse Orientierung gaben die Eltern ihrem Sprößling nicht mit. Die Mutter Sophie, geb. Fürther, war zwar gläubige Jüdin, verlor ihr Verhältnis zur Konfession aber zunehmend und wirkte kaum auf ihren Sohn ein. Dem Vater waren religiöse Fragen unwichtig. Er konvertierte vom protestantischen zum jüdischen Glauben, um Sophie heiraten zu können.

Max Schelers Großonkel Hermann Fürther war es, der mit christlichen Gebeten einen religiösen Erziehungsbeitrag leistete. So hatte Max Scheler eine Beziehung zur christlichen, nicht aber zur jüdischen Tradition entwickelt. Infolgedessen trat er 1899 zum Katholizismus über. Im gleichen Jahr heiratete Scheler Amelie Ottilie Wollmann. Aus der Ehe ging ein Kind hervor. 1900 wurde der frisch vermählte Ehemann Privatdozent im Fachbereich Philosophie an der Universität Jena. Unter den Gebildeten in Deutschland wurde Scheler bald zu einem einflußreichen Denker des weltoffenen Katholizismus im Geiste der platonisch-augustinischen Liebesidee. Um so mehr zog er die Empörung von engagierten Katholiken auf sich, als er sich 1922 öffentlich vom Katholizismus distanzierte, die Scheidung von seiner mittlerweile zweiten Frau einreichte und 1924 erneut heiratete.

Scheler interessierte sich in den letzten Jahren vor seinem Tod im Mai 1928 fast ausschließlich für Wissenssoziologie und verspottete seine frühe religiöse Phase. Der "frühe Scheler" sei keine Autorität mehr, schleuderte er einmal einem Geistlichen entgegen; und wer sich, wie es in Rom vorkomme, auf diesen Mann berufe, riskiere von der Nachwelt verhöhnt zu werden.

Von der religiösen Phase Schelers ist in den letzten Jahren seines Lebens also nicht viel übriggeblieben. Den Tod Gottes, den sein früher Zeitgenosse Friedrich Nietzsche ausgerufen hatte, schien er aber noch nicht ganz akzeptieren zu können. Scheler sprach halbherzig nur vom "schwachen Gott" und versuchte das Dogma vom Menschen als der Krone der Schöpfung in die Philosophie hineinzuretten, indem er dem Menschen eine Sonderstellung im Kosmos zubilligte. Und indem er ihn zu einem eigenen Typenblock gegenüber Pflanzen und Tieren erklärte, entriß er ihn heimlich dem Reich der Tierwelt. Ebenso selbstgefällig könnte, fabelhaft gesprochen, eine Ameise auf die Idee kommen, die Lebewesen der Erde in Pflanzen, Tiere und Ameisen zu unterteilen.

Die Sonderstellung des Menschen liege konkret darin, daß der Mensch ein unbestimmtes X sei, das sich in unbegrenztem Maße weltoffen verhalten könne. Das Tier hingegen sei auf eine ihm vorfindbare Welt festgelegt. Ein Gedanke, mit dem Scheler auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie Impulsgeber für Helmut Pleßner und später für Arnold Gehlen wurde, die die Sonderstellung des Menschen aber strikt aus der Natur heraus erklären wollten.

Kritisch besehen hat der Mensch mit seiner Weltoffenheit aber gar keine Sonderstellung im Kosmos, sondern nur eine ihm eigentümliche Überlebensstrategie, die sich bisher ebenso bewährt hat wie die Kunst der Ameise, ein Mehrfaches ihres Körpergewichtes tragen zu können. So wäre es durchaus legitim, ein Buch über "Die Stellung der Ameise im Kosmos" zu schreiben. Jedenfalls gibt es keine rational nachvollziehbaren Gründe, warum man wie selbstverständlich eine philosophische Anthropologie verfassen solle, ohne auf die Idee zu kommen, daß es ebenso berechtigt sei, eine philosophische Ameisologie oder Schimpansologie zu verfassen.

Da es keine göttliche Instanz gibt, die den Menschen zur Krone der Schöpfung erhöht hat, von der aus er sich herabblickend auf Tiere und Pflanzen definieren lassen könnte, kann der Mensch philosophisch nur vor dem bestimmt werden, was er selbst erschaffen hat. Schelers einstiger Assistent Günther Anders war es, der 1929 dergestalt vor Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Hannah Arendt und anderen den Begründungsnotstand der philosophischen Anthropologie darlegte. Die Stellung des Menschen im Kosmos ist damit nach Schelers frühem Ableben als die Stellung des Menschen im Ding- und Warenkosmos sowie der Ideenwelt fortgeschrieben worden. So ist es der Mensch, der Menschen zum Mittel des Warenabsatzes macht, gemäß seiner Ideenwelt minderwertige Rassen oder Spezies bestimmt und vieles andere mehr.

Schelers Gestalt blitzt mit Blick auf die Philosophie des 20. Jahrhundert als Impulsgeber auf. In diesem Sinne war Scheler mit Martin Heideggers Worten aus dem Jahre 1928 die "stärkste philosophische Kraft" der zwanziger Jahre.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen