© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Vergessene Schriftsteller (VI): Gertrud Bäumer
Zwischen Literatur und Politik
Mina Buts

"Gertrud Bäumer – das ist ein Name, den die Jugend fast nicht mehr kennt, der aber den Älteren jahrzehntelang ein Begriff war." So urteilte ihre Biographin Orla-Maria Fels 1973, keine zwanzig Jahre nach dem Tod Schriftstellerin.

Dabei war Gertrud Bäumer eine der prominentesten Frauen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: Geboren als Pfarrerstochter am 12. September 1873 im westfälischen Hohenlimburg, erschloß sie sich zielstrebig eine akademische Ausbildung. Nach Tätigkeit im Schuldienst legte sie das Oberlehrerinnenexamen als Zulassungsberechtigung für ein Studium an der Berliner Universität ab. Dieses wiederum krönte sie 1904 mit einer Dissertation über Goethes "Satyros". In der Zwischenzeit hatte sie durch den "Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein" Helene Lange, die geistige Führerin der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung, kennengelernt und mit dieser einen gemeinsamen Hausstand in Berlin begründet, der bis zu Langes Tod 1930 bestand.

Bereits seit 1899 gab sie – gemeinsam mit Helene Lange – die Zeitschrift Die Frau heraus, die erst 1944 ihr Erscheinen einstellen mußte. Von 1910 bis 1919 war Bäumer Vorsitzende des "Bundes Deutscher Frauenvereine", der Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, und organisierte in diesem Rahmen den "Nationalen Frauendienst" im Ersten Weltkrieg. Zu ihrem Engagement für die Anliegen der Frauen gehörte auch die Gründung und Leitung der "Sozialen Frauenschule" in Hamburg.

Nach dem Krieg zog sie als eine von insgesamt sechs weiblichen Abgeordneten für die Deutsche Demokratische Partei (ab 1930 Deutsche Staatspartei), deren Mitbegründerin sie war, in die Weimarer Nationalversammlung ein und behielt ihr Mandat bis zum Jahr 1932. Gleichzeitig war sie als Ministerialrätin im Reichsinnenministerium mit Fragen des Schulwesens und des Jugendschutzes betraut. Als sie dort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entlassen wurde, siedelte sie nach Obergießmannsdorf/Schlesien um und widmete sich nun verstärkt ihrer literarischen Tätigkeit. Zahlreiche Romane über führende Gestalten des deutschen Mittelalters entstanden in diesen Jahren.

Nach der Flucht aus Schlesien 1945 zog sie mit ihrer Schwester Else Bäumer nach Bad Godesberg. Das an sie herangetragene Anliegen, Mitbegründerin der CSU zu werden, lehnte sie ebenso ab wie eine Führungsrolle in einer neu zu schaffenden bürgerlichen Frauenbewegung. Sie starb 81jährig im März 1954.

Ebenso vielschichtig wie ihr Lebenslauf mit Stationen in der Parteipolitik, in der Frauenbewegung, in der national-sozialen Bewegung um Friedrich Naumann, in der Bildungspolitik ist auch ihr literarisches Werk. Gertrud Bäumer veröffentlichte im Laufe ihres Lebens nahezu 100 Bücher in einer in die Millionen gehenden Gesamtauflage und mehr als 1.000 Aufsätze, in denen sie sich zu kulturpolitischen, sozialpolitischen, literarischen und frauengeschichtlichen Themen äußerte.

Ihre erste Veröffentlichung, das gemeinsam mit Helene Lange edierte "Handbuch der Frauenbewegung", dessen fünf Bände zwischen 1901 und 1906 entstanden, erregte Aufsehen und gilt bis heute als unübertroffenes Standardwerk. Bäumer fungierte dabei nicht nur als Mitherausgeberin, sondern auch als Autorin umfangreicher Beiträge über die Geschichte der deutschen und der englischen Frauenbewegung sowie über die Geschichte der Frauenbildung in Deutschland.

Das Frauenthema dominierte bis 1933 ihre publizistische Tätigkeit. In rascher Folge erschienen Schriften über "Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart" (1904), "Die Frauenbewegung und die Zukunft unserer Kultur" (1909), "Die Frau und das geistige Leben" (1911), "Entwicklung und Stand des Frauenstudiums und der höheren Frauenberufe" (1912), "Die Frau in Volkswirtschaft und Staatsleben der Gegenwart" (1914), "Die Frau in der Krisis der Kultur" (1926) – um nur einige zu nennen. Gertrud Bäumer wurde nicht müde, immer wieder den gleichen Zugang zu Bildung und Ausbildung für beide Geschlechter und bessere Erwerbschancen für Frauen zu fordern. Forderungen der radikalen Feministinnen, Frauen den Männern gleichzustellen, konnte sie nicht viel abgewinnen; sie wollte Frauen zuerst in der Rolle als Erzieherin, Ehefrau und Mutter sehen. Wo sich dies nicht verwirklichen ließe, sollten ihnen bessere Bildungs- und Erwerbschancen eröffnet werden, wobei sie in erster Linie in "weiblichen", also sozialen und kulturellen Bereichen tätig werden sollten.

Im Dritten Reich beschränkte Gertrud Bäumer ihre Publikationstätigkeit auf historische oder literarische Themen. Ihre Studie "Ich kreise um Gott. Der Beter Rainer Maria Rilke" (1935) lobte dessen Freundin Lou Andreas-Salomé: "Was vor mir liegt, ist das endgültige Buch über Rainer Maria Rilke." Ausgedehnte Forschungsreisen nach Italien unternahm sie als Vorbereitung für ihre Bücher über "Adelheid, Mutter der Königreiche" (1936), "Der Berg des Königs. Das Epos des Langobardischen Volkes" (1938), "Die Macht der Liebe. Der Weg des Dante Alighieri" (1941) und "Die Reichsidee bei den Ottonen" (1946). Ihr Buch über Otto III. wurde erst nach dem Krieg veröffentlicht. Das Manuskript war das einzige Schriftstück, das sie im Fluchtgepäck aus Schlesien retten konnte.

"Der neue Weg der deutschen Frau", 1946 erschienen und als Versuch interpretiert, ihr doch eher passives Verhalten während des Nationalsozialismus zu erklären, trug ihr heftige Kritik, ja sogar den Vorwurf der Kollaboration ein. Ihre Autobiographie, 1933 bereits unter dem Titel "Lebensweg durch eine Zeitenwende" erschienen, unterzog sie einer drastischen Kürzung und Revision und veröffentlichte sie 1953 unter dem Titel "Im Licht der Erinnerung". Es war ihre letzte Publikation.

Literarische Auszeichnungen für ihr Werk lehnte sie zeitlebens ab. Als ihr 1949 der Annette von Droste-Preis verliehen werden sollte, erfuhr sie es rechtzeitig, um ihn vorab ablehnen zu können. Es sei ihr unverständlich, so schrieb sie an ihre Freundin Marianne Weber, "wie ein Dichter sich seine Gottesgabe nachträglich bezahlen lassen kann. (...) Ein ’Dichter‘ ist schließlich etwas anderes als ein Fußballspieler".

 

In der Reihe "Vergessene Schriftsteller" erschienen bisher Beiträge von Baal Müller über Ernst Bertram (JF 7/99), Rudolf Borchardt (17/99) und Ludwig Klages (27/99), von Magdalena Gmehling über Ernst Wiechert (10/99) sowie von Ulli Baumgarten über Edwin Erich Dwinger (23/99).


 
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