© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Weimarer Hoftheater: Streit zwischen Herzog Carl August und Johann Wolfgang von Goethe
Nicht Abbild, sondern Steigerung des Lebens
Sigrid Hummel

Ein Blick in die Premieren-Kalender der deutschen Schauspielhäuser verrät nicht unbedingt, daß Deutschland ein "Vierteljahrtausend Goethe" begeht: Faust in allen Variationen, ein bißchen "Clavigo", ein bißchen "Stella", dazu Bearbeitungen "nach Goethe", als Hauptperson also der Regisseur, nicht der Dichter.

Auch in Weimar, Kulturhauptstadt des Jahres, interessiert am Theater vor allem das Doppelstandbild Schiller-Goethe, an dem die Menschen Schlangestehen, denn jeder will am Sockel geknipst werden, sich umarmend oder Händchen haltend einen Hauch von "Weimarer Klassik" verspüren.

Der Bau dahinter interessiert nur die Damen und Herren, die gegen Sonnenuntergang im feineren Tuch "Der Tragödie erster und zweiter Teil" in fünfeinhalb Stunden bewältigen, um am Ende zu erkennen, daß auch Regisseur Michael Gruner irrt, solang er strebt. Darüber hilft am Ende auch der ehrliche Hinweis aus Schuberts "Winterreise" nicht hinweg: "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus..."

Dabei wäre guter Rat für besseres Theater gar nicht so teuer gewesen: Der Buchmarkt hält außer über auch von Goethe einiges Niedergeschriebene zur Bühnenkunst parat, und nicht erst zum Geburtstag: Johann Wolfgang von Goethe, der Herr Geheime Rat, war nämlich 26 Jahre lang (1791–1817) Verwalter, Direktor, Regisseur und Dramaturg des kleinen, seit 1798 neuen Weimarer Hoftheaters und damit ein eminent kulturpolitisch Wirkender. Hier finden sich Schätze, die gehoben werden müssen.

Pionierhaft gestaltete Goethe die Theaterpraxis, indem er sich weg vom üblichen Unterhaltungsgenre systematisch hin zum Bildungsgut bewegte. Er öffnete – außer dem höfischen – auch einem breiten bürgerlichen Publikum den Zugang zum Theater, durch billige Eintrittspreise dank herzöglicher Zuschüsse und Vielseitigkeit des Repertoires. Er engagierte Berufsschauspieler, versah sie mit dem Titel "Hofschauspieler" und mit einem Salär, das sie bewog, zu bleiben. Gegeben wurden Shakespeare, Mozarts Opern, besonders "Die Zauberflöte" und "Don Giovanni" sowie Stücke zeitgenössischer Autoren.

Neben Friedrich Schiller, von dem sechs Schauspiele zur Uraufführung kamen, bevorzugte Goethe besonders August von Kotzebues Lustspiele und Dramen und August Wilhelm Ifflands Theaterstücke mit ihrem bürgerlich-moralischen Grundgehalt. Noch heute gilt der Ifflandring als die Auszeichnung für den jeweils bedeutendsten lebenden deutschsprachigen Schauspieler, derzeit Bruno Ganz.

Iffland und Ekhof waren für Goethe ebenso bevorzugte Darsteller wie Regisseure, weil sie mit ihren Interpretationen modellhaft das Publikum "heben" und zur Reflexion anregen konnten. Ifflands erstes Gastspiel 1796 betrachtete Goethe als den Beginn einer neuen Entwicklungsphase der Weimarer Bühne. Damit wird die Reformtendenz Goethes sichtbar, der aus der Hofbühne gerne ein aus dem Geiste des bürgerlichen Humanismus erwachsenes Nationaltheater gemacht hätte. Jedoch mußte er sich damit bescheiden, daß aufgrund seines doch recht anspruchslosen Publikums fast 95 Prozent der aufgeführten Stücke unter seiner Intendanz Singspiele italienischer, französischer, spanischer und deutscher Sprache, Possen und Komödien waren und nur fünf Prozent die klassische Dramatik von Lessing, Schiller oder Goethe selbst ausmachten. Wie alle Neuerungen wurden die klassischen Dramen wegen ihrer literarischen Substanz und des theatralischen Anspruchs als Herausforderung gesehen und blieben erst einmal nur einem kleinen Publikum zugängig. Schillers Dramen waren noch die wirkmächtigsten.

Die nachrevolutionäre Zeit stürzte das damalige Geistesleben in eine tiefe historische Krise, aus der sich Goethes und Schillers resolut gesteuertes Konzept für ein kulturpolitisches Handeln ergab. Zwei in ihrem Wesen und ihrer Persönlichkeit völlig unterschiedliche Künstlertypen unterstanden der gleichen Notwendigkeit, woraus sich die gemeinsame Aufgabe der Zukunft stellte: durch Rückkehr zur Natur auf der Stufe des höchstentwickelten Geistes die Idee der Menschheit erschöpfend darzustellen. Schiller formulierte: "Durch die in der Welt sich offenbarende Gewalt der Schönheit soll der Mensch zur vollkommenen, absoluten, sittlichen Freiheit reifen." Darin wird Schillers radikale Verfechtung von Kants Gedankengut deutlich. Und deswegen durfte Theater nicht Abbild, sondern mußte Steigerung des Lebens sein.

Der Plan ging nicht auf: Schon länger schwelte es zwischen den ehemaligen Vertrauten Herzog Carl August und seinem Geheimen Rat, weil Goethe auch solche Werke zur Aufführung brachte, in denen das revolutionäre Element der Gedankenfreiheit (wie zum Beispiel in Schillers "Don Carlos") unverhohlen zum Ausdruck kam. Im "Theaterstreit" von 1808 wurde jedoch der Gegensatz überdeutlich: Nach Schillers Tod, als Goethe seinen "Torquato Tasso" zur Uraufführung brachte, kam es zur offenen Entladung. Der Herzog goutierte das Stück nicht und warf – wie in solchen Fällen üblich – Goethe Vernachlässigung der Führung des Hauses vor. Die Entlassung erfolgte nach langen Querelen 1817.

Tröstlich mag für Goethe gewesen sein, daß er schon 1794 schrieben hatte, Theater als "Lehranstalt zur Kunst" sei mit Heiterkeit zu betrachten: Die Theaterereignisse seien kleine, "im Vergleich mit dem Weltwesen höchst unwichtige Verhältnisse". So gesehen ist die Pfuscherei im Goethe-Jahr nichts allzu Tragisches.


 
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