© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Sozialreform: Arbeitslosenvertreter fordern Beitrag aller gesellschaftlichen Gruppen
Wir müssen lernen, zu teilen
Karl-Peter Gerigk

Herr Novatscheck, wovon muß heute eine Arbeitsloser leben, wenn er längerfristig ohne Job ist?

Novatscheck: Man spricht immer von 67 Prozent des letztes Nettoeinkommens. In Wirklichkeit ist es aber weniger. Es tendiert eher gegen 50 Prozent. Ein Beispiel: Wenn man etwa ein Kind zu alimentieren hat, erhält man 67 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Dies basiert allerdings nur auf zwölf Monatsgehältern. Da jedoch oft 14 Monate lang Gehälter bezogen werden, diese aber bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht berücksichtigt sind, ist der reale Anteil geringer. Die finanzielle Situation ist nicht das einzige Problem. Es gibt auch soziale Konflikte durch Ausgrenzung. Vieles, was für den Normalverdiener alltäglich ist, kann man sich nicht mehr leisten. Es wird auch an Dingen gespart, die seelische Freuden bereiten. Dies betrifft den öffentlich-kulturellen Bereich oder auch den privaten, da man zu einer Geburtstagsfeier nicht geht, weil kein Geld für ein Geschenk da ist. Echte Freunde werden weniger, und es kann auch nicht der Sinn des Lebens sein, den ganzen Tag Game- oder Talk-Shows zu sehen.

Wenn ein Arbeitsloser nicht in die Sozialversicherungskassen einzahlen kann, weil er keinen Job hat, muß er dann im Alter von der Sozialhilfe leben?

Novatscheck: Gehen wir von einer durchschnittlichen Rente von 2.000 Mark aus. Ein Langzeitarbeitsloser zahlt nur von 80 Prozent des letzten Bruttoverdienstes in die Rentenversicherungskasse ein. Dies soll jetzt aber noch zu Ungunsten der Arbeitslosen geändert werden. Dies bedeutet für einen Langzeitarbeitslosen, der mit 60 Jahren in Rente geht, eine Kürzung von bis zu 400 Mark. Nach den Vorhaben der aktuellen Kanzlerrunden würden die Kürzungen bei der Rente für Langzeitarbeitslose dann bei über 20 Prozent liegen, gemessen an dem, was sie bei der Beibehaltung ihrer Tätigkeit bekommen hätten. Dies ist unsozial.

Gilt dies für alle Einkommen gleich?

Novatscheck: Die benannte Durchschnittsrente basiert auf einem Durchschnittseinkommen bei einer Einzahlung in die Rentenkasse von 45 Jahren. Wenn nun jemand mit 60 Jahren in Rente geht, weil er keine Arbeit mehr findet, bekommt er rund 20 Prozent weniger Rente. Aber bemessen wird die Rentenzahlung bei Langzeitarbeitslosen nicht mehr vom letzten Bruttoverdienst, sondern vom ohnehin schon reduzierten Arbeitslosengeld oder der Arbeitslosenhilfe. Von 1.600 Mark kann eine Familie wohl kaum leben. Hier wird dann ergänzende Sozialhilfe erforderlich, was die Kassen der Kommunen belastet. Betroffen sind Leute, die unter Umständen 40 Jahre lang gearbeitet und ihre Abgaben gezahlt haben.

Denken Sie, daß "Besserverdienende" neben der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer zusätzlichen Abgabe für ihre Altersvorsorge verpflichtet werden sollten?

Novatscheck: Eine Altersrente alleine hat auch schon früher kaum genügt, um den Lebensstandard zu halten. Es wird heute oft so getan, als ob Rentner im Schlaraffenland gelebt hätten oder noch bequem leben könnten. Dies gilt für den Durchschnitt im allgemeinen nicht. Im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung sind die Rentenkassen ja überlastet worden. Hier haben die betreffenden Politiker nicht richtig nachgedacht. Die Rente für die Ostdeutschen wurde und wird falsch finanziert. Ich bin dafür, daß eine generelle Sozialversicherungspflicht kommt. Es sollten auch Beamte zahlen. Wer dies nicht will sollte eine private Vorsorge nachweisen müssen. Es kann nicht sein, daß ein Selbstständiger sagt, ich haue in Mallorca alles auf den Putz und wenn ich alt bin, bekomme ich Sozialhilfe aus Deutschland. Ich bin für einen Sozialstaat, in dem jeder seinen Beitrag leistet – und nicht nur die sozial Schwachen von ihrem wenigen Geld Abgaben für ihre Altersvorsorge zahlen müssen.

Welche Reformen im Sozialversicherungssytemen halten Sie für notwendig, um die Staatskassen zu entlasten und auch eine hinreichende Vorsorge für alle im Alter zu treffen?

Novatscheck: Wir brauchen eine Verbreiterung der Zahlungsgrundlage, also daß mehr Beitragszahler dabei sind. Beamte, Selbständige und andere bislang Befreite sollten für einen Beitrag in die Sozialkassen herangezogen werden. Es ist ja so: Aussiedler aus der ehemaligen UdSSR bekommen hier Rente. Das halte ich für gut – aber es wird weder Rußland hieran beteiligt noch der deutsche Staat oder die gesamte Gesellschaft. Es sind nur die Beitragszahler der Rentenkassen. So etwas könnte auch aus Steuermitteln finanziert werden. Es sollten ohnehin alle versicherungsfremden Leistungen herausgenommen werden, welche die Kassen unnötig belasten.

Spielt der demographische Faktor nicht auch eine Rolle für die Zahlungsschwierigkeit der Sozialkassen?

Novatscheck: Sicherlich, die Menschen arbeiten kürzer und leben länger. Es belastet Renten- und die Gesundheitskassen, wenn die alten Menschen auch krank sind. Aber das eigentliche Problem ist die hohe Zahl von Arbeitslosen. Angenommen, wir verkürzen die Arbeitszeit um zehn Prozent, dann ergäbe dies bei 34 Millionen Beschäftigten einen großen Überhang an Arbeitszeit, die besetzt werden könnte. Hier wäre dann in der Industrie und bei den Arbeitgebern eine Umstrukturierung notwendig, welche nicht durch Rationalisierungen versucht, die Produktivität mittels Maschinen zu steigern, sondern mehr Arbeitskräfte einsetzt und dies an geeigneten Arbeitsplätzen, welche die Produktivität steigern. So könnte die Arbeitslosenzahl rein theoretisch auf eine Million gesenkt werden. Dies wären drei Million Beitragszahler mehr – und das entlastet die Sozialkassen sicherlich. Kombiniert mit entsprechenden Senkungen bei den Abgaben an die Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung und einer sozial ausgewogenen Steuerreform lägen die Einkommenseinbußen nach der Arbeitszeitverkürzung nur bei etwa drei Prozent.

Glauben Sie, daß durch die Einsparungen im Gesundheitswesen und möglichen Verschreibungslisten arme Menschen die schlechtere Gesundheitsvorsorge und unwirksame Medikamente erhalten?

Novatscheck: Das wird immer bestritten. Auch von Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Aber es ist ein Trend auszumachen, daß Menschen mit weniger Geld auch häufiger krank werden und bleiben, weil sie sich die gute Gesundheitumsorgung nicht leisten können. Es ist nicht alles aus der eigenen Tasche zahlbar, wenn man krank wird. Jede Krankheit muß behandelt werden können; dies darf nicht an Kosten scheitern.

Hat die hohe Zahl von Erwerblosen für die Wirtschaft nicht auch den "positiven" Nutzen des Überhangs an Arbeitskräften; weil ein Überangebot an Arbeit auch die Arbeitskosten gesenkt hat und der Nettolohn in vielen Bereichen gesunken ist?

Novatscheck: Ich spreche mit vielen Menschen, die arbeitslos sind, und mit vielen, die im Arbeitsprozeß stehen. Ich kann feststellen, daß es in den letzten Jahren bei den Beschäftigten eine starke Leistungsverdichtung gab. Die Arbeitnehmer werden vielfach ausgenutzt und ausgequetscht wie im Manchesterkapitalismus. Viele Arbeitgeber schleichen sich auch aus den Tarifvereinbarungen heraus. Die Tarifabschlüsse mit den Gewerkschaften sind oft nur Makulatur, weil die Betriebe längst eigene Verträge mit den Arbeitnehmern abschließen.

Gerhard Schröder ist mit der Absicht angetreten, die Arbeitslosenzahlen zu senken. Müssen die Wähler von ihm enttäuscht sein?

Novatscheck: Ja, die Betroffenen müssen enttäuscht sein. Ich habe am Tag der Wahl mit Gerhard Schröder in Hannover gesprochen. Er hat gesagt, daß nach diesem Wechsel auch eine andere Politik gemacht würde. Heute sagen viele Arbeitslose zu mir: Die Köche sind ausgewechselt worden, aber die Mixtur ist die alte geblieben. Also auf einen Nenner gebracht: die sozial Schwachen sind auch weiterhin die, von denen am meisten eingefordert wird. Das ist eine Discountmentalität, die an dieser Stelle sozial unausgewogen ist.

Sollten sich die Betriebe um die Altersvorsorge der Arbeiter mehr kümmern?

Novatscheck: Die Leistungen von Betriebskrankenkassen und der Pensionsvorsorge durch die Unternehmen sind in den letzten Jahren auch immer schlechter geworden. Dies weiß ich aus eigener Erfahrung. Die Pensionskassen waren auch zum Teil eine günstige Refinanzierungsmöglichkeit für die Betriebe. In Zeiten der Hochkonjunktur konnte hiermit auch Personal angelockt werden. Das haben die Unternehmen heute nicht mehr nötig.

Wie stellen Sie sich die gesellschaftliche und berufliche Reintegration von sozial Geschwächten und Arbeitslosen vor?

Novatscheck: Wir haben zur Einbindung Arbeitsloser und sozial Schwacher Forderungen entwickelt: Dazu gehört die Bevorzugung von Arbeitslosen bei Einstellungen, wenn sie die gleiche Qualifikation vorweisen. Auch wäre es gut, wenn manche die Erfahrung der sogenannten "sozialen Hängematte" einmal selbst machten, um vom hohen Roß zu kommen. Es ist nicht leicht, ein Jahr oder länger mit 525 Mark Sozialhilfe im Monat auszukommen, wenn man vorher auch schon nicht reich gewesen ist. Die Gesellschaft muß lernen, zu teilen: das heißt Vermögen teilen, Einkommen teilen, Arbeit und Belastung teilen.

 

Gerd Novatscheck ist 1942 in Berlin geboren. Nach der Mittleren Reife absolvierte er eine Lehre als Industriekaufmann und studierte auf dem 2. Bildungweg Betriebswirtschaft. Er war aktiv in verschiedenen Arbeitnehmerorganisationen der Chemie-Industrie. Nach einer Werksschließung wurde er im Juli 1995 arbeitslos. Im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) war er zwei Jahre in einer Arbeitslosen-Initiative beschäftigt. Seit 1. Juli 1999 ist er Vorsitzender der "Arbeitslosen-Initiative 2000 e.V." in Siegburg (NRW).

Der Verband ist Interessenvertretung der Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Personen beim Deutschen Bundestag seit 1993. Kontakt:Arbeitslosen-Initiative 2000 e.V., Nogenter Platz 4,  53721 Siegburg


 
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