© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Goethe im Elsaß: Der junge Dichter entdeckt seine Berufung
Entscheidende Impulse
Jean-Jacques Mourreau

Das offizielle Erinnerungsvermögen ist im Elsaß oft selektiv. Schweigend über den Elsaßaufenthalt des jungen Goethe von April 1770 bis August 1771 hinwegzugehen, erweist sich dennoch als unmöglich. In Straßburg, wo der lebensfrohe junge Mann sein Jurastudium abschloß, sind die Spuren seines Aufenthalts unübersehbar. Zwar existiert das Gästehaus "Zum Geist", wo er zunächst Unterkunft fand, heutzutage ebensowenig wie die Pension der Fräulein Lauth. In der Nähe des Münster erinnert jedoch an einer schmalen Hausfassade am Alten Fischmarkt eine ovale Gedenktafel daran, daß er hier wohnte. Vor dem Palais Universitaire, nicht weit von der Ill, ragt seine Statue stolz zwischen zwei Musen hervor.

Bei der erneuten Lektüre von "Dichtung und Wahrheit" fällt dem überraschten Leser von heute auf, welche Bedeutung Goethe seinem elsässischen Jahr zumaß. Seine idyllische Beziehung zu der jungen Friederike Brion, der Tochter des Pfarrers von Sesenheim, ist sicherlich allgemein bekannt. Ihr Einfluß auf das Werk des Dichters ging weit über die "Sesenheimer Lieder" hinaus. In dem reizvoll am Waldrand gelegenen Dorf Sesenheim wird dem Dichterfürsten noch heute gehuldigt. Seine Bewunderer pilgern zu dem von weitem sichtbaren Zwiebelturm. Nach der etwas gestreng wirkenden Gedenkstätte besichtigen sie die evangelische Kirche. Dieses schöne und schlichte, von großen Linden umschattete Bauwerk beherbergt ein wunderbares Orgelgehäuse und eine Kanzlei, die aus der Zeit Friederikes und Johann Wolfgangs stammen. Nicht weit davon entfernt lockt die restaurierte Scheune des alten Pfarrhauses – die sogenannte "Goethe-Scheune" – die Besucher an.

Es hat sich als fromme Konvention eingebürgert, Goethes Zeit im Elsaß auf die Erinnerung an Friederike zu reduzieren. Dabei kann man es jedoch nicht bewenden lassen. In diesen siebzehn Monaten, die für ihn entscheidend waren, studierte Johann Wolfgang nicht nur Jura, sondern auch Medizin. Besonders interessierte er sich für Geburtshilfe sowie für die Anatomievorlesungen des berühmten Lobstein und vielleicht am allermeisten für die Chemievorlesungen Spielmanns, war Chemie doch für ihn die "Schwester der Alchemie". Dabei wußte er jedoch sein Leben stets zu genießen und war kein Kostverächter.

In "Dichtung und Wahrheit" verewigte Goethe die "Lustorte", die in der damals noch grünen und ländlichen Umgebung liegen: Wantzenau und Ruprechtsau. Sein Auge für schöne Frauen ließ ihn die Tracht der Straßburgerinnen ebenso im Gedächtnis behalten wie ihre um den Kopf gewundenen Zöpfe. An die Durchreise der jungen und schönen Erzherzogin Maria-Antonia, die den Rhein überquerte, um ihrem schrecklichen Schicksal entgegenzugehen, erinnerte er sich genau. Er spricht von einer "schönen und aufsehenerregenden Figur, ebenso heiter wie beeindruckend" und nennt als Datum den 7. Mai 1770. Des weiteren erwähnt er seine Teilnahme an dem Fackelzug, den die Studenten zu Ehren des Gründers der Straßburger Diplomatenschule, Johann Daniel Schöpflin, veranstalteten. Dessen "Alsatia illustrata" war Goethes erste Begegnung mit der Archäologie. Zwei Schüler dieser wissenschaftlichen Koryphäe, Christoph Wilhelm Koch und Jeremias Jakob Oberlin, sollten ihn ermutigen, einer diplomatischen Laufbahn den Vorzug zu geben.

Es ist dem Einfluß Johann Daniel Salzmanns zu verdanken, daß Johann Wolfgang sich vom Pietismus distanzierte. In Straßburg, das erst seit neunzig Jahren unter der Herrschaft des französischen Königs stand, konnte er sich dank seines Mentors in der protestantischen Oberklasse bewegen, die den Franzosen immer noch Mißtrauen entgegenbrachte. Seine Freunde gehörten der intellektuellen Elite junger Deutscher an, die auf dem besten Weg waren, sich einen Namen zu machen. In der Pension Lauth wohnten außer ihm Heinrich Stilling, Johann Meyer, Heinrich Leopold Wagner, Franz Christian Lersé, Johann Conrad Engelbach, Friedrich Leopold Weyland. Das Schicksal aller dieser Männer sollte mit der deutschen Kultur verknüpft sein. Mit einigen von ihnen, vor allem Lersé, den er zu einer Figur in seinem "Götz" machen sollte, und Stilling, der unter dem Namen Jung-Stilling bekannt wurde, verband Goethe eine dauerhafte Beziehung.

Das wichtigste Ereignis dieser Zeit war jedoch seine Begegnung mit Herder im September 1770 auf der Treppe der Herberge "Zum Geist". Herder hatte sich schon als Sprachtheoretiker und Geschichtsphilosoph Achtung erworben und war gerade von einer Rundreise durch Frankreich und Europa zurückgekehrt, auf der er auch Französischkenntnisse erworben hatte. Gegenüber dem Jüngeren beklagte er die geistige Dürre der französischen Kultur, der er das spannungsgeladene Heldentum bei Barden wie dem alten Homer, Ossian oder Shakespeare gegenüberstellte. Herder veranlaßte Goethe darüber hinaus, sein Verständnis Hamanns, des "Weisen aus dem Norden", zu vertiefen und sich mit Volksliedern zu beschäftigen.

Verschwieg Goethe Herder deshalb seine Lektüre der Werke von Paracelsius und Svedenborg, weil er ihn "bissig und bitter" fand? Oder stand seine Haltung gegenüber den Lehren des Mannes aus Königsberg schon fest? Wie dem auch sei, Goethe sollte zeit seines Lebens Herders Worte über die Misere der deutschen Literatur, die Dürre des französischen Klassizismus und das Genie Shakespeares im Gedächtnis behalten. Seine Bewunderung für letzteren versiegte nie, die Begegnung mit Herder wirkte prägend auf den jungen Dichter.

Seit Straßburg trug sich Goethe mit dem Ansinnen, seinen "Faust" zu schreiben. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie beliebt das "Faustbuch" in der rheinischen Gegend ist. Bevor er sie sich zu eigen und zu seinem Lebenswerk machte, kannte Johann Wolfgang die Geschichte des "Zauberdoktors" aus Darstellungen im Kindertheater. In Straßburg hat er vermutlich die Gelegenheit gehabt, sie von echten Schauspielern im Deutschen Theater in der Tucherstubengasse aufgeführt zu sehen. Er interessierte sich bereits lebhaft für Götz von Berlichingen, den anachronistischen und störrischen Ritter, dessen legendären Charakter er bald darauf in Form eines Schauspiels zum Leben erweckte und damit zum ersten Mal ein Stück deutscher Geschichte auf die Bühne brachte.

Im Elsaß entdeckte der junge Goethe also zugleich seine deutsche Identität, seine dichterische Berufung und seinen Stoff. Aus dieser Zeit rührt seine Begeisterung für die Sturm-und-Drang-Bewegung. Man muß nur "Willkommen und Abschied" oder das Manifest "Von deutscher Baukunst" lesen, das er zu Ehren Meister Erwins, des legendären Architekten des Straßburger Münster, schrieb, um sich dieser Wirkung bewußt zu werden.

Das sinnliche Elsaß war Goethes erstes Italien. Aus dieser Quelle speiste sich seine Verwandlung, die ihn lehrte, ein "Liebling der Götter" zu sein. Er sollte dies niemals vergessen. Wenn er sowohl seiner eigenen Tochter als auch der jungen Protagonistin der "Wahlverwandtschaften" denVornamen Ottilie gab, so geschah dies in Erinnerung an die elsässische Heilige, die auf dem Odilienberg verehrt wird, den er in Gesellschaft von "hundert oder tausend Gläubigen" bestieg. Leider kennen die jungen Elsässer keinen dieser Zusammenhänge und wissen auch nicht mehr, daß die berühmte Ballade "Erlkönig" in ihrer Heimat entstand. Daß die "Sprache Goethes", wie die Franzosen sagen, im Elsaß als Fremdsprache gilt, ist eine Schande.

 

Jean-Jacques Mourreau ist gebürtiger Elsässer. Er arbeitet u.a. für Enquête sur l’Histoire und Eléments. In der letzten Ausgabe von Eléments veröffentlichte er einen Beitrag zur "Religion Goethes".


 
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