© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


CD: Pop
Stimmungskanonen
Peter Boßdorf

Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank haben mit ihrer Firma Tocotronic, im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, ab und zu eine wichtige kulturpädagogische Aufgabe erfüllt: Sie hielten die Erinnerung daran wach, daß Punk in Deutschland ursprünglich ein Phänomen der gehobenen Stände war. Das Lumpenproletariat, das heute mit diesem Begriff assoziiert wird, trat erst später, angelockt durch so schrille wie falsche Vorstellungen, in die Geschichte der Bewegung ein. Aus den meisten, die anfänglich viel Spaß dabei hatten, ist etwas Respektables geworden – alles andere wäre auch eine große Überraschung gewesen.

Tocotronic nun hat eine Ahnung davon, daß die Musiken sich ändern können, doch die Zeiten nicht. Daher spielt man gleich so, als wäre alles beim alten und es gelte immer noch, John Lennon mit simplem Rock eine Freude zu machen. Das Publikum jedoch ist kaum noch zu überraschen. Jeder weiß aus eigenem Erleben, daß es sich mit einem durchdachten Maß an Dissidenz gut im Strom schwimmen läßt, und es ist nicht erhellend, darüber zu sprechen, oder gar abgründig, sich darüber lustig zu machen. Tocotronic behilft sich in diesem Schweigen gebietenden Nicht-einmal-mehr-Dilemma mit gelangweiltem Klamauk, der über das Durchkonjugieren eines naiven Zugriffs auf die Welt und ihre Verhältnisse nicht hinauskommt. Dieses Image korrespondiert immerhin mit dem schmächtigen Erscheinungsbild der drei Musiker, die man eher in der Eisdiele als in der Diskothek vermuten würde, doch bleiben trotz aller Verstellungskünste die Spaßwelten von Fettes Brot verschlossen. Der Impetus von Tocotronic ist zu wichtigtuerisch, als daß die Ironie und das Understatement all die Hemmungen und Verklemmungen aufbrechen könnten, die die Band bis ans Ende ihrer Tage auf ihr wärmespendendes Milieu angewiesen sein lassen. Und doch verweist die Pose, die auf "K.O.O.K." (Liage dior/ Motor Music) eingenommen wird, auf eine mentale Disposition, die sich bei immer mehr jungen Menschen zeigt: eine neue Sentimentalität im Umgang mit dem Alltag, ein früher Hang zur Autobiographie, eine Romantisierung von Markenwelten und pubertären Samstagnachmittagsver-gnügungen.

Der studierende Sohn, daheim bei den Eltern zum Tee, ausnahmsweise einmal ohne die so verpickelte wie aufsässige und unbeliebte Freundin, zum Abschied, die gebügelte Wäsche bereits unter dem Arm, ein wehmütiger Blick ins Jugendzimmer, in dem alles so unverrückt ist wie beim Auszug. Zu soviel unverfälschten Gefühlen ist unsere Gesellschaft schon noch fähig, und es schadet nichts, daß sich Tocotronic aus diesem Stoff Gelegenheitsverse schmiedet. Auf einmal sind so viele mit im Boot, daß es schon die Brüderlichkeit gebietet, nicht zu viele Duftmarken zu setzen. Alles ist harmlos – von dieser Regel sollte niemand mehr abweichen dürfen. "Morgen wird wie heute sein": Es gibt eine Altklugheit, die nicht durch Reflexion, sondern durch Erschöpfung reift.

Diese Erschöpfung spiegelt sich auf "K.O.O.K." in einer Musik wieder, die fast durchgängig so langsam und auch langatmig geworden ist, daß von einer Absicht gesprochen werden könnte. Wollte man – programmatisch – The Cure mit "Seventeen Seconds" nacheifern? Mit K.O.O.K ist den Musikanten von Tocotronic jedenfalls im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, ihre bislang bemerkenswerteste Veröffentlichung gelungen.


 
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