© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Wolfgang Harich: Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie
Mit der Vernunft im Bunde
Doris Neujahr

Wolfgang Harich war bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1956 eine der schillerndsten Figuren in der Intellektuellen-Szene der DDR: Bereits auf dem ersten, noch gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß 1947 in Berlin gab der damals 23jährige eine Kostprobe seines Scharfsinns und rhetorischen Talents, als er namens der Generation junger Kriegsteilnehmer die Konzeption einer unpolitischen Dichtung attackierte.

Harich absolvierte eine atemberaubende Karriere als Theaterkritiker, Journalist und Philosophiedozent und wurde zu einer prägnanten öffentlichen Person, mit der sich, wie vage auch immer, Hoffnungen auf einen entstalinisierten Sozialismus verbanden. 1957 wurde er wegen "Boykotthetze" zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er mehr als acht verbüßte. Nach seiner Entlassung blieb er gesellschaftlich isoliert. Nach 1989 versuchte er durch Publikationen, Interviews und Lesungen wieder ins öffentliche Leben zurückzukehren. Inzwischen war er ein gebrochener, von Paranoia heimgesuchter Mann. Von den Aktivitäten seiner letzten Jahre – er starb im März 1995 – bleibt vor allem seine erbitterte Auseinandersetzung mit dem einstigen engen Mitstreiter und -häftling Walter Janka über die tatsächlichen Ziele der oppositionellen Harich-Janka-Gruppe in Erinnerung. Im irrigen Glauben, mit ihrer Deutungshoheit über die fünfziger Jahre ließe sich die Zukunft der DDR bestimmen, verletzten die beiden Ulbricht-Opfer sich bis aufs Blut. Es war der skurrile Schlußpunkt eines letztlich tragischen Lebenslaufs.

Im Frühjahr 1972 begann Harich, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Es entstanden zwei Fassungen, die beide mit dem Jahr 1956 enden. Zusammen mit einem längeren Fernsehinterview, das Harich dem Dokumentarfilmer Thomas Grimm im Oktober 1989 für dessen "Zeitzeugen-TV" gegeben hat, liegen sie nun gedruckt vor.

Am interessantesten und von großer atmosphärischer Dichte sind die ersten hundert Seiten, auf denen er die Geschichte seiner Familie ausbreitet und den eigenen Lebensweg bis 1945 erzählt. Sein Vater Walther Harich (1888-1931) war promovierter Literaturwissenschaftler. Er veröffentlichte Biographien über E.T.A. Hoffmann und Jean Paul und reüssierte als Schriftsteller und Publizist. Der Großvater väterlicherseits, Ernst Harich (1858-1940), war Druckereibesitzer und Zeitungsverleger in Allenstein, der die Allensteiner Zeitung herausgab und eine exklusive Villa schräg gegenüber der Bischofsburg in Allenstein bewohnte. Der Großvater mütterlicherseits, Alexander Wyneken (1848-1939), gründete die Königsberger Allgemeine Zeitung, bei der er bis 1928 als Verleger und Chefredakteur fungierte.

Wolfgang Harich wurde am 9. Dezember 1923 in Königsberg geboren. 1926 zog er mit seinen Eltern nach Berlin, später nach Neuruppin in die Villenkolonie Wuthenow. Zwischen 1927 und 1940 unternahm Harich jährlich mindestens eine mehrwöchige Reise zu den Großeltern nach Königsberg und Allenstein sowie in die Ostseebäder Rauschen und Cranz. Zum Bekanntenkreis der Eltern gehörten die Königsberger Schriftsteller Agnes Miegel und Alfred Brust. Sein Vater war mit dem Germanisten Josef Nadler bekannt, der seit 1925 als Ordinarius an der Königsberger Universität amtierte und an einer mehrbändigen "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" arbeitete. Nadler riet Walther Harich zu einer Hochschullaufbahn. Beide überwarfen sich, als Harich im letzten Band des Nadler-Opus antisemitische Tendenzen feststellte.

Im Feuilleton seiner konservativen Königsberger Allgemeinen gewährte Alexander Wyneken, durchaus typisch für die Weimarer Republik, linksbürgerlichen Literaten und sogar Sympathisanten des Kommunismus eine Art Narrenfreiheit. Ein geistiger Leitstern der Familie war der Ostpreuße Johann Gottfried Herder, über den Wolfgang Harich 1951 seine Dissertation verfaßte. Man dachte russophil in dieser Familie, der Vater gehörte dem liberalen, die Großelterngeneration dem konservativen Lager an.

Alles Kollektivistische war dem intelligenten Jungen zuwider; auch die Hitlerjugend übte auf ihn nur einen kurzzeitigen Reiz aus. Den Zweiten Weltkrieg überstand er leidlich, indem er in Krullscher Manier Lazarettaufenthalte hinauszögerte. Wohlmeinende Militärärzte halfen ihm, Fronteinsätze zu umgehen, und als er sich nach einer Desertion in höchster Not befand, bewahrte ihn die Intervention eines Generals aus seiner Verwandtschaft vor dem Schlimmsten.

Nach 1945 avanciert er zum Überflieger: Er arbeitet als Journalist und Theaterkritiker in Berlin, dessen Urteil von den feinsinnigeren unter den Kulturoffizieren der sowjetischen Besatzungsmacht geschätzt wird. Im Februar 1946 tritt er in die KPD/SED ein. Dabei spielt ein Motivbündel aus Schuldbewußtsein, Faszination für den Marxismus, Russophilie und Sympathie für exilierte Schriftsteller, die in die Ostzone heimkehren, eine Rolle. Nach seiner Dissertation wird er Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität, Lektor des Aufbau-Verlages, des wichtigsten Verlages der DDR, und Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Konflikte mit der SED-Führung sind vorprogrammiert, denn Harich ist zu klug und gebildet, zu tief ist er in der deutschen Kultur und der klassischen deutschen Philosophie verwurzelt, um den subalternen SED-Ideologen das letzte Urteil über diese geistigen Bereiche zu erlauben. Seine Vorlesungen stehen in hohem Ruf, auch sowjetische Botschaftsangehörige sitzen im Hörsaal.

Soviel Erfolge mußte einen flamboyanten Charakter wie Harich wohl zwangsläufig in den Größenwahn führen. Gemeinsam mit dem Verlagsleiter Walter Janka, dem in Ungnade gefallenen Altkommunisten Paul Merker und weiteren politisierten Intellektuellen hält er die Zeit für gekommen, die sowjetische Machtpolitik und den Ost-West-Konflikt außer Kraft zu setzen. Er verfaßt ein nationalkommunistisches Strategiepapier: In der DDR sollen innenpolitische Reformen eingeleitet, Ulbricht entmachtet und die SED entstalinisiert werden. Die SED, hofft Harich, würde damit für die SPD hoffähig werden und sie zugleich weit nach links ziehen. Diese Linkskoalition könnte dann bei gesamtdeutschen Wahlen die Mehrheit erringen und schließlich die Wiedervereinigung eines neutralen Deutschland erreichen. Mit diesem Konzept geht der 33jährige im Oktober 1956 zum russischen Botschafter Puschkin und drängt ihn, die Sowjetunion möge Ulbricht fallenlassen und ihre Deutschlandpolitik ändern. Doch weder die Sowjetunion noch Ulbricht lassen mit sich spaßen. Puschkin informiert Ulbricht, der zitiert Harich zu sich und gibt ihm zu verstehen, er werde seine Umtriebe nicht länger dulden. Der Hegel-Kenner aber fühlt sich mit der Vernunft im Bunde und unangreifbar. Kurz danach kommt es für ihn zur Katastrophe. Als besonders schmerzhaft und rufschädigend erweist sich, daß sein Hauptmotiv – das Ringen um die deutsche Wiedervereinigung – im Prozeß nicht zur Sprache kommen darf.

Im zweiten Teil des Manuskripts kommt Harich hölzern, beinahe parteiamtlich daher. Zwar durchschaut er frühere Illusionen und deren politisch-ideologischen Prämissen, kann oder will aber keinen Abstand zu ihnen gewinnen. So kommt es, daß er für Ulbricht sogar Verständnis bekundet, während sein Haß gegen Adenauer, dem er durchgehend nationalen Verrat vorwirft, konstant bleibt. Er mag nicht zugestehen, daß der Bonner Kanzler die russische Politik und die deutschlandpolitischen Möglichkeiten realistischer einschätzte als er selber. Adenauer befürchtete, die Neutralisierung Deutschlands würde ganz Europa schließlich sturmreif für die Sowjetunion machen. Da ihm Adenauers Sorgen um den Aufbau einer deutschen Demokratie, um die Westbindung und die europäische Einigung nichts bedeuten, bekümmert es ihn auch gar nicht, daß das Argument, mit dem er dem sowjetischen Botschafter seine Deutschland-Perspektive schmackhaft zu machen versuchte: "Was wollen Sie denn mit dieser Braunkohlenecke hier, Sie können das Ruhrgebiet mitkriegen", exakt Adenauers Analyse bestätigt. Nur ein einziges Mal gestattet er sich im Interview einen Blick in den Abgrund der Selbstzweifel und bekennt, vielleicht hätte er doch lieber als Schüler von Nicolai Hartmann nach Göttingen gehen sollen.

Dieses Nachlaßmanuskript hat zweifellos einen großen dokumentarischen Wert, macht aber einmal mehr das Fehlen einer ausgewogenen Harich-Biographie schmerzhaft deutlich. Die vorliegende Edition bleibt unter allen Erwartungen. Sie ist voller Orthographie-Fehler, Personen- und Ortsnamen sind verkehrt geschrieben, etliche Altersangaben sind falsch, und ein Anmerkungsapparat fehlt. Man vermißt ein kompetentes Vorwort mit einer zeitgeschichtliche Würdigung, die auch Harichs Einsichten und Reflexionen über die Nachwende-Zeit einschließt, die er in seinem Buch "Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit" (Dietz-Verlag, Berlin 1993) niedergelegt hat. Doris neujahr

 

Wolfgang Harich: Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie. Hrsg. v. Thomas Grimm. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999, 384 Seiten, 39,90 Mark


 
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