© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Sozialstaat im Wandel
von Michael Wiesberg

twa ein Drittel des Bruttoinlandproduktes wird in Deutschland derzeit für Sozialleistungen ausgegeben. An diesem riesigen Sozialkuchen partizipieren inzwischen auch immer mehr Nichtdeutsche, weil die Politik Zuwanderern mehr und mehr den gleichen Zugang zu sozialen und politischen Rechten ermöglicht wie den Einheimischen. Diese Entwicklung hat einschneidende Folgen: An die Stelle des für den Sozialstaat eigentlich konstitutiven Gedankens von Leistung und Gegenleistung ist die Forderung nach der Umverteilung des Reichtums getreten. Mit nicht mehr zu überbietender Kaltschnäuzigkeit hat dies der derzeitige Umweltminister Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) in einem Interview mit der Welt am Sonntag am 13. Juli 1997 auf den Punkt gebracht: "Leute wie Gloria Thurn und Taxis müssen die Kohle für den Sozialstaat herausrücken."

Mit dieser Umverteilung soll auch und gerade die Integration und die gesellschaftliche Teilhabe der Zuwanderermassen gesichert werden. Es zeigt sich aber immer deutlicher, daß bestimmte ethnische Gruppen in Deutschland, wie zum Beispiel die Türken, weniger die Teilhabe an, als vielmehr die Vollalimentation durch die deutsche Gesellschaft erwarten. Ansonsten benötigt man die Deutschen in den türkischen "Parallelgesellschaften" auf deutschem Boden immer weniger.

Wie der deutsche Sozialstaat von vielen (Noch-)Ausländern (Stichwort: Doppelpaß) gedeutet wird, darauf hat in bemerkenswerter Offenheit der in Deutschland lebende Kurde Namo Aziz am 7. Januar dieses Jahres im Deutschlandradio aufmerksam gemacht. Aziz stellte fest, daß das Ziel der Zuwanderer das bessere Leben in Deutschland sei. Wörtlich sagte Aziz: "Es ist die paradiesische Vorstellung, leben zu können, ohne arbeiten zu müssen. Eine Vorstellung, die bei Muslimen dem Leben nach dem Tod vorbehalten ist. In Deutschland gibt es dieses Paradies schon im Diesseits."

Um hier eines klarzustellen: Nicht nur Ausländer fühlen sich von diesem Paradies angezogen. Auch viele Deutsche sind den Leistungen eines Sozialstaates, der, faßt man es richtig an, vom Mobiliar bis zum Präservativ alles zahlt, keineswegs abgeneigt und haben sich in der sozialen Hängematte gut eingerichtet. Daß eine derartige Vollalimentation keineswegs zu der von allen "gesellschaftlich relevanten Gruppen" in Deutschland angebeteten "sozialen Gerechtigkeit" führt, sondern zu einer immer unverfroreneren Absahner- und Ausbeutermentalität, muß nicht mehr eigens diskutiert werden. Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für den Sozialstaat allerdings in einem Maße verändert, das erhebliche Einschnitte in das soziale Netz hätte nach sich ziehen müssen.

Diese Einschnitte sind unterblieben, obwohl allerorten von der Herausforderung durch die Globalisierung die Rede ist, der sich Deutschland doch endlich zu stellen habe.

Man denke in diesem Zusammenhang nur an das mediale Palaver um die Herzog-Rede im Hotel Adlon, als dieser den "großen Ruck" beschwor, der durch das Land gehen müsse. Wir wissen heute, daß es beim Palaver geblieben ist. Die Karawane ist weitergezogen und debattiert derweil die angeblichen Sparbemühungen der rot-grünen Bundesregierung, die bei Licht gesehen nichts weiter als eine Begrenzung der Neuverschuldung darstellen. Diese Debatte ist vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, ein Witz.

Ein "Weiter so, Deutschland!" ist nämlich ausgeschlossen: Die Wirtschaft, die durch ihre Hochproduktivität dieses Paradies auf Erden bisher möglich gemacht hat, darf nicht mehr weiter belastet werden, sollen die Arbeitslosenzahlen nicht noch weiter steigen. Auf der anderen Seite erodieren die seit Jahren exorbitant hohe Arbeitslosigkeit sowie die anhaltende Massenzuwanderung zunehmend die Finanzierungsgrundlagen des Sozialstaates, dessen Verfaßtheit einer durchgreifenden Überwindung der Beschäftigungskrise in Deutschland entgegensteht. In seiner jetzigen Verfassung trägt der Sozialstaat mit dazu bei, daß Zuwanderung und Arbeitslosigkeit konstant hoch bleiben und auf diese Weise die Finanzierung der umlagefinanzierten Sicherungssysteme untergraben. Der Sozialstaat verursacht ständig steigende finanzielle Lasten, die zu einer immer weiter geöfneten Steuer- und Abgabenschere führen. Die aus dieser Entwicklung resultierenden leeren öffentlichen Kassen sind inzwischen das eigentliche Steuerungsinstrument der Fiskalpolitik. Mit klaren ordnungspolitischen Prinzipien, wie sie Müller-Armack und andere Sozialstaats-Theoretiker einmal formuliert haben, hat dieses Gebilde, das heute als "Sozialstaat" bezeichnet wird, längst nichts mehr zu tun.

Eine Folge dieser Entwicklung ist das unternehmerische Ausweichverhalten, das sich auf die Begriffe Rationalisierung, Schattenwirtschaft und Standortverlagerung bringen läßt. Als Ausweichstrategien der Individuen lassen sich Steuer- und Sozialabgabenhinterziehung, Sozialmißbrauch und Freizeitmaximierung beobachten.

Alle diese Ausweichstrategien sind Indikatoren einer ordnungspolitischen Verwahrlosung Deutschlands. Deshalb ergibt es auch wenig Sinn, sich auf die Bekämpfung einzelner Fehlentwicklungen, wie zum Beispiel des Sozialmißbrauchs, zu verlegen. Fehlentwicklungen wie Schwarzarbeit oder Sozialmißbrauch lassen erkennen, daß die sozialpolitischen Initiativen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte mit den Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft nicht vereinbar waren. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder des Sozialmißbrauches trifft nur die Symptome, nicht aber die Ursachen. Um deren Beseitigung aber muß es gehen, wenn in Zukunft auch weiterhin Umverteilung für die wirklich Bedürftigen ermöglicht werden soll.

Da die Finanzierung des Sozialstaates weitgehend an den Arbeitsvertrag gekoppelt ist, der über die Lohnzusatzkosten den Preis für den Produktionsfaktor Arbeit erhöht, bedeutet jedes Mehr an Sozialem ein Weniger an Wettbewerbsfähigkeit der abhängigen Beschäftigten gegenüber Rationalisierungsmaßnahmen. Die Folge: Durch sozialkostenbedingte Rationalisierungsmaßnahmen entsteht eine Arbeitsplatzlücke, die insbesondere in den weniger qualifizierten Tätigkeitsgebieten durchschlägt.

Die Folge dieser Entwicklung ist, daß der Anteil der Ausländer, die dauerhaft arbeitslos sind oder von der Sozialhilfe leben, wächst und wächst. Gleichzeitig geht die Massenzuwanderung gering (oder überhaupt nicht) qualifizierter Ausländer unter der eklatanten Mißachtung des ordnungspolitischen Grundsatzes weiter, daß Zuwanderung nur immer soweit zulässig ist, wie die Lebenssituation der Einheimischen nicht verschlechert wird.

Eine Änderung dieser Entwicklung läßt sich nur erreichen, wenn der überregulierte deutsche Arbeitsmarkt an die veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen angepaßt, sprich: endlich marktwirtschaftlichen Bedingungen unterworfen wird. Genau diese Anpassung aber wird von Politik und Gewerkschaften bisher verweigert. Die Folge: Die gesamtwirtschaftliche Produktivität steigt zwar (noch) an, mit der Konsequenz allerdings, daß der beschäftigungspolitische Teufelskreis weiter angeheizt wird. Da die aufgrund von Arbeitslosigkeit und Zuwanderung steigenden Sozialkosten über höhere Lohnzusatzkosten finanziert werden müssen, die wiederum den Zwang zu erhöhter Produktivität nach sich ziehen, steigt zwangsläufig die Arbeitslosigkeit, die ihrerseits immer höhere Sozialkosten produziert.

Soll dieser beschäftigungspolitische Teufelskreis durchbrochen werden, bedarf es eines klaren Bruches mit dem Sozialstaat in seiner jetzigen Form. Eine effektive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nur dann möglich, wenn es zu einer weitgehenden Entkoppelung von Sozial- und Arbeitskosten kommt. Konkret heißt das, daß die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme weitmöglichst privatisiert wird.

Die Absicherung gegen die Risiken des Lebens muß in die private Hand gelegt werden. Dieser Ansatz zieht konsequenterweise einen Abschied von den umlagefinanzierten Sicherungssystemen nach sich.

In Zukunft müssen die Sicherungssysteme mit einem Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden. Auf den Punkt gebracht, lautet daher die Forderung: das Subsidiaritätsprinzip (meint, daß das, was der Mensch selber tun kann, diesem nicht durch gesellschaftliche Tätigkeit abgenommen werden sollte) muß wieder Vorrang vor dem Solidaritätsprinzip erhalten. Vor den Folgen eines exzessiv ausgelegten Solidaritätsprinzipes hat zum Beispiel der Nationalökonom Wilhelm Röpke eindringlich mit folgenden Worten gewarnt: "Die Gesundheit der Gesellschaft selbst steht auf dem Spiel, wenn wir diesen Weg weiter gehen, den Weg einer mechanisierten Massenfürsorge, der das Krankheitsbild einer vermassten Gesellschaft vollendet."

Diese "mechanisierte Massenfürsorge" ist deshalb entmündigend, weil sie den Menschen aus der Verantwortung für sich selbst und für die eigene Lebensführung entläßt. Parallel zum nachlassenden Zwang, die eigene Existenz sichern zu müssen, hat in Deutschland infolge falscher ordnungspolitischer Weichenstellungen eine Schnorrermentalität um sich gegriffen, die der Gemeinschaft die Konsequenzen der eigenen Lebensführung aufbürden will. Es ist zum Beispiel überhaupt nicht einzusehen, warum die Solidargemeinschaft die Folgen exzessiven Rauchens oder Alkoholgenusses über die Krankenversicherungsbeiträge finanzieren soll. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Gemeinschaft die Krankheitsrisiken übergewichtiger Menschen mittragen soll. Wer sich die Freiheit nimmt, Genußgifte im Übermaß zu konsumieren oder meint, gewichtsmäßig den "Wildecker Herzbuben" nacheifern zu müssen, soll auch gefälligst die Konsequenzen in Form erheblich höherer Krankenkassenbeiträge tragen.

Im Gegenzug müssen die, deren Lebensführung Krankheiten vorbeugt, über entsprechende Beitragssenkungen entlastet werden. Das Prinzip Selbstverantwortung muß Anwendung in allen sozialen Sicherungssystemen finden. Wer sich zum Beispiel den Mühen eines Berufsabschlusses zu entziehen sucht und damit überproportional hoch von der Gefahr betroffen ist, arbeitslos zu werden, sollte deutlich höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen müssen.

Auch das Steuersystem muß mehr als bisher wieder ordnungspolitischen Prinzipien unterworfen werden. Wer zum Beispiel glaubt, sich "selbst verwirklichen" zu müssen und deshalb auf Kinder verzichten zu können meint, sollte über deutlich höhere Steuern diejenigen Familien mitunterstützen, die sich den Mühen der Kindererziehung unterziehen und damit einen Beitrag für die zukünftige Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme leisten.

Nur auf diese Weise kann die Versorgungsmentalität zugunsten des Prinzips Selbstverantwortung durchbrochen werden. Im übrigen verdankt sich der Gedanke der Selbstverantwortung einem Freiheitsbegriff, der das Individuum für mündig genug hält, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu überblicken und für diese Konsequenzen auch einzustehen. Dieser Freiheitsbegriff baut auf die Einsicht, daß die Selbstentfaltung des Individuums dort endet, wo die Gemeinschaft für die Folgen aufkommen soll.

Den Zwängen der in (rechts-)konservativen Kreisen nur zu oft als "asozial" verdammten Globalisierung ist es zu verdanken, daß der zum Krankheitsbild entartete deutsche Sozialstaat endlich zur Disposition steht. Je schneller, desto besser. Diese Konsequenzen der Globalisierung werden in Deutschland bisher mit dem Hinweis auf einen fragwürdigen Begriff von "sozialem Frieden" verweigert. Es ist zutreffend, daß der "soziale Friede" als Standortfaktor positiv zu Buche schlägt. Wenn dieser aber als Produktionsfaktor sozialpolitisch zu teuer bezahlt wird, verliert er seine international positive Standortwirkung.

Der "soziale Friede" in Deutschland ist deshalb fragwürdig, weil er über die regulierenden staatlichen Eingriffe in die Arbeitsmärkte, wie zum Beispiel Kündigungschutzbedingungen, Sozialplanpflichten, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifabschlüssen und dergleichen mehr regelrecht erzwungen wird. Im gleichen Maße aber, wie die Beschäftigungsverhältnisse von marktwirtschaftlichen Bedingungen befreit worden sind, ist der eigentliche Sinn des Sozialstaates, dessen Grundlage immer noch eine leistungsfähige Wirtschaft ist, in sein pures Gegenteil pervertiert worden: aus dem Sozialstaat wurde institutionalisierte Asozialität.

Keine Frage: Das Soziale muß auch in Zukunft ein zentraler Bestandteil unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung bleiben. Die soziale Komponente wird aber nur dann bewahrt werden können, wenn die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft wieder zum Tragen kommen. Diese Prinzipien kreisen um die Begriffe Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit, Wettbewerb und Offenheit des Systems sowie Selbstverantwortung und Subsidiarität in der sozialen Sicherung. Diese Begriffe müssen für den deutschen Sozialstaat wieder konstitutiv werden, soll dieser eine Zukunft haben.

 

Michael Wiesberg, 39, schrieb zuletzt im Forum über die Frage "Was ist heute national" (JF 41/98).


 
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