© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Kolumne
Vergangenheiten
von Klaus Motschmann

Die deutschen Vergangenheiten werden nach den Grundregeln der political correctness auf sehr gegensätzliche Weise "bewältigt". Einerseits wird der vielzitierte "Schlußstrich" als Indiz für politische und moralische Verantwortungslosigkeit entschieden abgelehnt; andererseits wird er ebenso entschieden gefordert. Insbesondere in der PDS mehren sich im Blick auf den 10. Jahrestag der Maueröffnung am 9. November, aber wohl auch aus Anlaß der Landtagswahlen in einigen neuen Bundesländern, die Forderungen nach einem "Ende der Siegerjustiz", womit offenkundig eine Generalamnestie angestrebt wird.

Die ganz offensichtlichen Widersprüche im Umgang mit der Vergangenheit lösen sich sehr schnell auf, wenn man auch bei dieser Gelegenheit auf die von allem äußeren gesellschaftlich-politischen Wandel seit 1989 unberührte und demzufolge ungebrochene Kontinuität des marxistischen Selbst- und Geschichtsverständnisses hinweist. Dieses mißt die politischen Verhältnisse in den kapitalistischen Staaten grundsätzlich an der Wirklichkeit, jene in den sozialistischen Staaten bzw. in den sozialistischen Bewegungen aber grundsätzlich an der Idee, an der dem Frieden, der Gerechtigkeit, dem Humanismus verpflichteten Ideologie. "Wer da kämpft für das Recht, der hat immer recht", heißt es in dem bekannten "Lied von der Partei". Und da die Partei immer für das Recht und "gegen Lüge und Ausbeuterei" kämpfte und noch immer kämpft, triumphiert noch immer die "Gesinnung über die Urteilskraft" (Hermann Lübbe).

Nur ein aktuelles Beispiel zur Veranschaulichung der Konsequenzen dieses Denkens: Jeder deutsche Soldat, der sich am 1. September 1939 dem Einmarsch in Polen nicht widersetzte, gilt im günstigsten Fall der Beurteilung als ein "williger Vollstrecker" der nationalsozialistischen Eroberungspolitik. Dabei könnte man doch wissen (wenn man nur wollte!), daß die Sowjetunion und die Kommunistische Internationale Hitlers Polenfeldzug nicht nur rechtfertigten, sondern auch militärisch unterstützten. Wo war der Aufruf der Komintern, der Sowjetunion, der kommunistischen Intellektuellenzirkel zur Bildung von internationalen Brigaden wie noch wenige Jahre zuvor im spanischen Bürgerkrieg?

Jeder kommunistische Parteifunktionär und marxistische Intellektuelle, der sich dieser Politik Stalins nicht widersetzte, war damit selbstverständlich kein "williger Vollstrecker" seiner Politik. Jedenfalls ist davon so gut wie nichts zu hören, weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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