© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Türkei: Staat versagt bei Hilfe für die Opfer des Erdbebens
Die Allüren der Militärs
Gregor M. Manousakis

Das schwere Erdbeben, das am 17. August den Nordwesten der Türkei heimsuchte und nach Schätzungen der UNO mehr als 40.000 Menschen das Leben kostete, war für die Seismologen keine Uberraschung. Auf mehreren internationalen seismologischen Tagungen wurde seit Anfang der neunziger Jahre ein bevorstehendes Erdbeben von mehr als Stärke sieben auf der Richter-Skala in dieser Region vorausgesagt.

In der asiatischen tektonischen Platte, auf der die Türkei liegt, besteht eine große Verwerfung, die in Anatolien beginnt, parallel zum Südufer des Schwarzen Meeres verläuft, an den Meeresengen nach Süden einknickt und in der Ägäis endet. Seismisch aktiv war diese Verwerfung schon immer. Aus byzantinischen Quellen ist bekannt, daß im Jahre 358 ein Erdbeben genau die Region verwüstete, die auch jetzt betroffen wurde. Seit Beginn dieses Jahrhunderts kam es auf derselben Verwerfung zu mehreren starken Erdbeben.

Trotzdem hat das jetzige Erdbeben den Staat vollends unvorbereitet getroffen. In den ersten zwei Tagen ist er so gut wie gar nicht im Katastrophengebiet in Erscheinung getreten. Der Staat war nicht einmal in der Lage, die aus allen Himmelsrichtungen eintreffende ausländische Hilfe und die Rettungsmannschaften zu koordinieren und effektiv einzusetzen. Russische und griechische Rettungsmannschaften, die als erste zu Hilfe kamen, mußten bis zu vier Stunden im Flughafen von Istanbul warten, bis die Zollformalitäten erledigt werden konnten und sie ihr Einsatzgebiet zugewiesen bekamen.

Ein Kühlschiff mit Medikamenten und Lebensmitteln, das schon am dritten Tag nach dem Erdbeben im Hafen von Istanbul einlief, um seine Ladung und seinen Kühlraum für die Bedürfnisse der Situation anzubieten, mußte zwei Tage warten, ehe sein griechischer Kapitän die Order bekam, den Hafen zu verlassen, denn der türkische Staat sei selbst in der Lage, für seine Menschen zu sorgen. Dahinter stand der Gesundheitsminister, Osman Durmusch, von der Partei der "Nationalistischen Aktion" (Graue Wölfe). Zwei Tage nach Abfahrt des Kühlschiffes gingen Hunderte von Tonnen gespendeter Hilfsgüter, die im Freien aufgestapelt waren, im starken Regen unter, der tagelang auf das Katastrophengebiet niederprasselte.

Türken weisen Blutspenden aus Griechenland zurück

"Schämt euch!" lautete die Schlagzeile der Zeitung Radikal, die den Vorfall veröffentlichte. Dennoch lehnte Durmusch im Fernsehen das gespendete Blut aus Griechenland ebenso ab wie amerikanische Lazarettschiffe und armenische Rettungsmannschaften, die in die Türkei eilten.

"Halt’s Maul!" soll der aufgebrachte Ministerpräsident Ecevit seinem Minister im Kabinett zugerufen haben. Die Presse verbreitet den Ausspruch mit dem Zusatz "verschwinde!"

Die türkischen Medien, offenbar vor dem Ausmaß der Katastrophe von den Restriktionen befreit, drückten den Unmut der Hilflosen gegenüber dem gelähmten Staat frei aus. "Mörder!" betitelte Hurriyet, die größte Zeitung des Landes, ihre Anklage gegen die Bauunternehmer, die mit wenig Zement und minderwertigem Stahl mehrstöckige Häuser bauten. Ros Maunten, Direktor des UNO-Büros für die Koordinierung der humanitären Hilfe, sagte, daß die ausländischen Rettungsmannschaften von der geringen Qualität der zusammengebrochenen Gebäude erstaunt seien. Die Anklage gilt auch dem Staat selbst, der trotz vorhandener Bauvorschriften ohne jegliche Kontrolle die Bauunternehmer ihr Unwesen treiben ließ, so weit, daß selbst die Befehlszentrale der türkischen Flotte in Izmit wie ein Kartenhaus zusammenbrach und 600 Offiziere und Matrosen begrub. Nach der türkischen Presse stand dahinter der übermächtige Filz, der zwischen der politischen Klasse des Landes und der Bauwirtschaft besteht.

Staatspräsident Demirel beklagte, das Erdbeben sei gottgewollt gewesen und der Mensch dagegen machtlos. Pointierter meinte Ecevit, bei einer so großen Katastrophe, bei der selbst die Kommunikationsmittel zusammenbrechen, sei jeder Staat machtlos. Das stimmt schon; allerdings konnte er der türkischen Presse nicht erklären, wieso die Büros des Roten Halbmondes (islamisches Rotes Kreuz), am Ende der Woche des Erdbebens (21./22.8) geschlossen blieben, während die Menschen im Erdbebengebiet ohne Trinkwasser und Nahrung in Schlamm und Fäkalien dahinsiechten. Staatliche Stellen schätzen die wirtschaftlichen Folgen des Erdbebens auf sieben Milliarden Dollar. Der Präsident des türkischen Industrieverbandes, Yoseoglou, schätzt die Schäden sogar auf 20 Milliarden US-Dollar oder 20 Prozent des Bruttosozialprodukts der Türkei.

Im Erdbebengebiet sind 70 Prozent der türkischen Industrie konzentriert. Schwerwiegend ist, daß die Betriebe, bis auf wenige Ausnahmen, in der nächsten Zeit nicht arbeiten können. Der Präsident des Industrieverbandes Istanbul, Kavi, ist der Ansicht, daß in den nächsten Wochen die Wirtschaft um 200 Millionen Dollar täglich verlieren wird, weil die betroffenen Betriebe ihren Lieferverpflichtungen nicht nachkommen können.

Für die Unfähigkeit des Staates, auf die entstandene Situation zu reagieren, machen die Medien das politische System des Landes verantwortlich. Die Regierung Ecevit versucht, durch eine Verschärfung der Pressezensur die Lage in den Griff zu bekommen. Der private Kanal 6, der besonders ausführlich über die Situation berichtete, sollte für eine Woche seine Sendungen einstellen. Ein Gericht annullierte allerdings diesen Beschluß; ein seltener Fall in der Türkei.

Die internationale Bereitschaft, der Türkei zu helfen, ist groß. Auch Griechenland will sein Veto gegen die Auszahlung der Finanzierungshilfe der Europäischen Union an die Türkei aufgeben. Insgesamt geht es um 500 Millionen Euro. Der Wunsch Ankaras, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erneut beliehen zu werden, wird dagegen kaum befriedigt werden können, denn die Türkei ist vorerst außerstande, dessen Auflagen zu erfüllen. Auch die Absicht der EU, im Dezember die Türkei als Beitrittskandidaten anzuerkennen, wird kaum realisiert werden können.

Die Ohnmacht des Staates angesichts der Katastrophe hat das politische System des Landes angeschlagen. Der Stolz der Türkei, ihre gut ausgerüstete Armee, brauchte über 48 Stunden, um in den zertrümmerten Städten zu erscheinen. Ministerpräsident Ecevit führte dies in einem Interview im amerikanischen Nachrichtensender CNN auf die Zerstörung der Verkehrswege und der Anlagen für die Kommunikationsmittel zurück. Beides entspricht der Wahrheit.

Wahr ist aber auch, so die türkischen Medien, daß im zusammengebrochenen Kriegshafen von Izmit Militäreinheiten umgehend zur Stelle waren, um den israelischen Rettungsmannschaften zu assistieren, die sich um die verschütteten Soldaten bemühten. Wahr ist auch, daß, als Soldaten in Izmit und in anderen Städten erschienen, sie nicht mit Schaufeln und Spitzhacken, sondern mit automatischen Maschinenpistolen ausgerüstet waren.

Armee ist Instrument der staatlichen Repression

Der Kollaps des Staates hatte inzwischen die Opfer des Erdbebens aufgebracht, weshalb Ankara Ausschreitungen befürchtete. Die Armee kam im Katastrophengebiet als Repressionsinstrument, nicht als Helfer an.

"Die sind nur da, um auf uns zu prügeln, wenn wir streiken", sagte im türkischen Fernsehen ein auf dem Boden sitzender Mann über die bewaffnet herumspazierenden Soldaten. "Es handelt sich um einen unannehmbaren Unsinn", kommentierte der Chef der Streitkräfte, Kivrikoglu, die Beschuldigungen der Presse über die Haltung der Armee. Staatspräsident Demirel und Ministerpräsident Ecevit, die erst vier Tage nach dem Erdbeben im Katastrophengebiet eintrafen, sind mit Unmutsbezeugungen empfangen worden.

Es ist bekannt, daß islamische religiöse Organisationen eine wesentliche Rolle in der sozialen Vorsorge spielen; wo Not ist, sind sie schneller und effektiver da als der Staat. Dazu setzen sie Geld ein, das eigene Betriebe erwirtschaften oder das von arabischen Ölstaaten gespendet wird. Der propagandistische Effekt dieser Aktivitäten ist für die islamische Bewegung groß. Eben deshalb hat die Regierung solchen Organisationen verboten, sich für die Betroffenen des Erdbebens einzusetzen und Sammlungen für sie zu veranstalten. Spenden dürfen nur an den Roten Halbmond und anerkannte humanitäre Organisationen geleistet werden. "Der Staat erwies sich als schwach, unfähig und uneffektiv in dieser großen Krise", sagte Yilmaz Ensaroglu, Generalsekretär der islamisch-humanitären Organisation "Malzum Der", deren Bankkonten vom Staat gesperrt wurden. Der kemalistische Staat hat eben in der Türkei einen anderen Stellenwert, als es in Europa üblich ist – er hängt sein Bild höher als die Not seiner Menschen.

Auf der Grundlage der Reaktionen der Presse und der Äußerungen der Betroffenen vor den Medien kann nun angenommen werden, daß sich in dieser Richtung etwas ändern wird. Das Bild des starken, durchorganisierten Staates, der sich selbst als Regionalmacht versteht, für seine Menschen immer da und allen Situationen gewachsen ist, hat Schiffbruch erlitten.

Der vom Staat selbst geförderte Slogan "der einzige Freund der Türken ist der Türke selbst" ist mit Blick auf die Finanzhilfen, den Einsatz der Rettungsmannschaften und Ärzten – selbst aus Zypern –, den Stapel von Hilfsgütern, die aus vielen Ländern im Katastrophengebiet eintreffen, untergegangen.

Es wäre ungerecht, wenn allein das politische System der Türkei verantwortlich für die zutagegetretene Handlungsunfähigkeit des Staates gemacht werden sollte. Bevor der Staatshaushalt entworfen wird, bekommt die Regierung den Verteidigungshaushalt vom Generalstab zugestellt, der ohne jegliche Abstriche, auch durch das Parlament, im Staatshaushalt integriert werden muß. Für den sozialen Bereich und die zeitgemäße Organisierung und Ausrüstung des Staates selbst bleibt dann wenig übrig. Obwohl die Region von Erdbeben geplagt ist, gab es keine mit modernen Geräten ausgerüstete Rettungsmannschaften, die verschüttete Menschen aufspüren konnten. Solche Geräte haben erst die ausländischen Rettungsmannschaften in die Türkei gebracht.

Die Abhängigkeit der Türkei von internationalen Hilfsorganisationen mit entsprechender Ausstattung ist überdeutlich zutage getreten. Die Regionalmacht-Allüren des türkischen Generalstabes sind in dieser Situation unangemessen und eher beschämend.


 
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