© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Stasi-Akten: Plädoyer für den Fortbestand der Gauck-Behörde
Archiv gegen das Vergessen
Siegmar Faust

Die Tage des amtierenden Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR sind gezählt, weil die vorgeschriebene Amtszeit abläuft. Wer auch immer im nächsten Jahr der Nachfolger Joachim Gaucks wird, hat es schwer und wird schon als Auslaufmodell gehandelt.

Der Glücksfall einer charismatischen Persönlichkeit wie Gauck, dessen Behörde wegen der Länge ihrer bürokratischen Bezeichnung im allgemeinen Sprachgebrauch sogar seinen Namen trägt, wird sich kaum wiederholen. Der ehemalige Rostocker Pfarrer konnte landauf, landab in unermüdlichem Einsatz die immer wieder aufkeimende Forderung nach Schlußstrich oder Totalamnestie vom Tisch wischen, auch mit dem Hinweis auf noch massenhaft eingehende Anträge auf Akteneinsicht. Ein Kernsatz seiner Botschaft hieß: "Gegen das Vergessen, gegen DDR-Nostalgie hilft vor allem Akteneinsicht."

Daß die PDS als Partei der SED- und Stasi-Schergen diese Akteneinsicht gern deckeln will, ist verständlich. Beobachter der Szene kann das nicht überraschen. Ideologen, die meinen, daß die SED zwar "eine verbrecherische Organisation" gewesen sei, die"eine große Idee so erfolgreich zerrüttet" habe, drücken nur die Arroganz derer aus, denen es weniger um Anerkennung der Wirklichkeit geht als vielmehr um die Anmaßung, der Welt utopische Ideen aufzupfropfen, notfalls auch mit revolutionärer Gewalt. Als hätten solche erziehungsdiktatorischen Versuche, die das Menschengeschlecht, wie Trotzki meinte, gar auf das Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx heben sollten, nicht schon mindestens 80 Millionen Menschenopfer gekostet. Unbelehrbar wollen Gutmenschen nach ihrer jeweiligen Zeitgeistidee, natürlich stets unter Berufung auf letzte wissenschaftliche Erkenntnisse, die Menschheit retten, erziehen, reglementieren, genau gesagt: vergewaltigen und sie ihrer ohnehin spärlichen Lebenszeit und Freiheit berauben. Die Gier solcher Lebenskonstrukteure nach Vollkommenheit hat schon immer nur Verkommenheit hervorgebracht.

Die Gauck-Behörde hingegen ist die Frucht einer kurzen Phase von Spontaneität, als sich die Bürokratenkaste, überrascht von den geschichtlichen Ereignissen, konvulsivisch am Boden wälzte. Hungerstreikende Bürgerrechtler, unterstützt sogar von DSU-Parlamentariern, verhinderten das Einsargen der Stasi-Akten ins Koblenzer Staatsarchiv. Alle Unkenrufe, daß Mord und Totschlag um sich greifen würden, wenn jeder seine Nase in seine ureigensten Angelegenheiten steckte, erwiesen sich als Unsinn. Das Gejammer darüber, daß einige Spitzel mit dem Zusatz "IM" stigmatisiert worden seien, kann aus der Perspektive der Opfer des SED-Regimes, die pro Haftmonat lediglich die Hälfte der Haftentschädigung eines Willi Stoph oder Erich Mielke erhielten, nur als Zynismus empfunden werden.

Die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der zweiten Diktatur in Deutschland ist ein Fiasko. Auf die Frage einer Dresdner Zeitung, "Hat der Rechtsstaat versagt?", antwortete ich, damals noch Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen: "Es gab zwar viele Ermittlungsverfahren, aber sie wurden nur halbherzig verfolgt. Lediglich 25 Personen sitzen wirklich in Haft. Das alles war Geldverschwendung und eine Selbstbeschäftigungstherapie für Juristen." Auf die weitere Frage: "Also, deren Schuld?" folgte die Antwort: "Nein, die Politiker haben versagt. Sie hätten sich etwas einfallen lassen müssen, so wie es nach 1945 das Nürnberger Tribunal gab."

Eine graue Eminenz des Sächsischen Justizministeriums, Ministerialrat Fischer, leitete "dienstaufsichtliche Maßnahmen" ein, weil meine Aussagen jeder Grundlage entbehrten und ich damit "den Bemühungen der Staatsanwaltschaft und der Staatsregierung um eine konsequente und glaubhafte strafrechtliche Aufarbeitung in den Rücken" gefallen sei. Dabei hat der profilierte Rechtswissenschaftler Wolfgang Naucke schon 1996 in einer Studie über die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der SED-Diktatur von einer "strafjuristischen Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität" gesprochen und dafür vor allem eine Renaissance des "staatsrechtlichen Positivismus" des 19. Jahrhunderts verantwortlich gemacht.

Da sich Zukunft nur aus der Herkunft entwickelt, müßte die Freude groß sein, daß es diese Gauck-Behörde gibt, in der man das aus seiner Geschichte ablesen darf, was den Lebensdilettanten der Firma "Horch und Guck" zu Personen und zum Umfeld relevant erschien. Daß sich erlebte Wirklichkeit von dem unterscheiden muß, was einem aus der Hinterlassenschaft einer geheimen Staatspolizei begegnet, ist banale Selbstverständlichkeit. Weder trügerische Erinnerungen noch Akten allein können Wirklichkeit ersetzen; sie sind jedoch Hilfsmittel zu ihrer Interpretation. Diejenigen, die sich gern zum Gewissen der Nation hochspielen, weil sie kein eigenes besitzen, sollten nicht vergessen, daß es ein einfaches Kriterium gibt, zu erkennen, wem jemand seine Sympathie widmet: denen, die sich, wie es Albert Camus formulierte, anmaßen, Geschichte zu machen, oder jenen, die sie erleiden müssen.

In einer Gesellschaft, die schon zweimal ihre Unfähigkeit zu trauern bewiesen hat, mitleidslos die Opfer verspotette und mit Brosamen abspeiste, sich aber zur Kompensation ihres schlechten Gewissens größenwahnsinnige Holocaust-Denkmale aufstellt, wird dieses einmalige Archiv der Diktaturhinterlassenschaft wenig geschätzt. Es waren zu viele, im Osten wie im Westen, die sich zu Bütteln des Systems und/oder dessen verbrecherischer Ideologie machen ließen. Möge einiges berechtigt sein, was der kürzlich verstorbene Schriftsteller Jürgen Fuchs an der Gauck-Behörde auszusetzen hatte, so wird sie dennoch als wichtigstes Mahnmal zur Aufarbeitung Hunderttausender Einzelschicksale in die Geschichte eingehen – nicht zuletzt deshalb, weil dieser Behörde neben Gauck viele fähige Mitarbeiter und engagierte Außenstellenleiter zur Seite stehen. Was wird, so darf man bange fragen, wenn die Erfahrung der Verteidiger dieser Erfahrung in den Ruhestand schwindet?

Das Gespenst der Utopie, das einst in Europa umging, hat viele kleine Gespenster gezeugt. Gegen Spuk läßt sich nur die Aufklärung setzen, die Aufklärung von A bis Z über die Notwendigkeit der Landesbeauftragten und der Gauck-Behörde samt ihrer Außenstellen als Archiv, Forschungszentrum und Geschichtswerkstatt.

 

Siegmar Faust, 55, Schriftsteller, wurde in der DDR zweimal wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu Gefängnisstrafen verurteilt und 1976 von der Bundesregierung freigekauft. Im Westen arbeitete er zunächst als freier Publizist. Von 1996 bis zum Frühjahr 1999 war er Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Heute lebt er in der Nähe von Würzburg.


 
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