© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Demokratiefeinde
Karl Heinzen

Nach 16 Jahren Helmut Kohl galt: Die Politik der SPD kann gar nicht so schlecht werden, daß man deshalb demnächst ausgerechnet CDU wählen mußte. Doch das Team Schröder hat allzu viele, die bei der Etablierung neuer Gerechtigkeitsmaßstäbe angemessen bedacht werden wollten, ohne Not vor den Kopf gestoßen. Mit seiner blinden Zukunftsorientierung regiert der Kanzler an den Herzen und Mägen der Menschen vorbei. Popularität bewahrt man sich nicht durch den Mut zu unpopulärer Politik.

Die Krise ist allerdings nicht bloß eine solche des Willy-Brandt-Hauses, sie ist eine unserer demokratischen Ordnung insgesamt. Es gibt Hinweise auf systemimmanente Fehlentwicklungen, die von den Vätern des Grund- gesetzes nicht bedacht werden konnten, weil sie aus der Erfahrung der national- sozialistischen Volksgemeinschaft heraus zu großes Vertrauen in ein verantwortungsethisch fundiertes Verhalten der Bürger setzten. Dieses ist einer Demokratie, die sich im Laufe der Zeit aus guten Gründen auf eigene Beine gestellt hat, nicht mehr adäquat.

Immer weniger Menschen sind heute in der Lage, sich im Anblick des Wahlscheins wenigstens für einen kurzen Moment einzubilden, daß ihre Stimme zählen könnte. Sie sehen keinen Anreiz, sich über ihre Interessen oder gar ihren politisch-philosophischen Standort Klarheit zu verschaffen, und geben sich den augenblicklichen Launen hin. Aus den Medien wissen sie nur, welches Wahlergebnis für das größte Aufsehen sorgen könnte, und in ihrer sadistischen Sensationslust folgen sie dieser Empfehlung nur zu begierig. Am aufregendsten ist es dabei immer, wenn die Regierung, die man am allermeisten für eine solche hält, die im Bund nämlich, eine Niederlage verpaßt bekommt. So macht Wählen wenigstens wieder Spaß.

Auf diese Weise läßt sich das Gros jener sogenannten Wechselwähler erklären, die von den unerklärten Feinden unserer Demokratie schon zum Ideal des modernen Staatsbürgers hochstilisiert werden. Tatsache ist, daß sich diese Wechselwähler als Minderheits- aber dennoch Massenphänomen in den vergangenen Jahren bei fast jeder Wahl über den Willen der Mehrheit von Stammwählern hinwegsetzen konnten. Damit werden genau diejenigen bestraft, die sich Gedanken über die Zukunft unseres Landes machen und darüber nach wohlerwogenen Grundsatzentscheidungen stabile Präferenzen für bestimmte Parteien entwickeln.

Stimmungsschwankungen der Wähler sind destruktiv, weil sie ansteckend sein können und sich selbst verstärken. Wer das erforderliche Alter erreicht, soll sich informieren, seine Wahl treffen und dann auch zu seiner Entscheidung stehen. Würde diese etwa in einem Wahlregister eingetragen, könnte im Prinzip sogar auf die Inszenierung aufwendiger Urnengänge von Staats wegen ganz verzichtet werden. Unsere Demokratie hätte sich nebenbei den Schritt ins elektronische Zeitalter erspart.


 
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