© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Der Kritiker
Gerd Sauer

Die meisten Leute gehen ja nicht ins Theater. Sie lesen höchstens Theaterkritiken. Wer aber sind jene unbekannten Menschen, denen man auf Treu und Glauben abnehmen muß, was sich auf der Bühne zugetragen haben soll?

Der Bedeutsame. Meist trägt er Nadelstreifenanzug und kommt sehr spät, um möglichst gründlich seinen Platz zu suchen und lange Zeit stehend vor diesem zu verharren, sobald er ihn gefunden hat. Der Bedeutsame schreibt für Zeitungen, hinter denen gebildete Köpfe stecken oder die vom Zeit-Geist bewegt sind. Also muß man ihn wahrnehmen, er ist das Ereignis. Er merkt sich alles und jeden, und er verzeiht nichts.

Der Ledermantel. Er schreibt für die örtliche Zeitung und muß durch betont legeres Äußeres auf sich aufmerksam machen. Keiner schreibt während der Vorstellung so viel wie er, damit der Ledermantel sich nachher für die 30 Zeilen seiner Regionalzeitung auch noch erinnern kann.

Der Schläfrige. Er behält seinen Stift die ganze Zeit im Mund, denn er möchte ihn beim Einnicken nicht verlieren. Er zieht den gesunden Arbeitsschlaf der lediglich in Umrissen wahrgenommenen Aufführung vor. Trotzdem ist seine Kritik meist die klügste. Das ist logisch, denn weise Menschen sind immer ausgeruht.

Der Zyniker. Er geht bevorzugt in Komödien und nur dann, wenn man ihm den Mittelplatz in der ersten Reihe zur Verfügung stellt. Wenn der Zyniker das Theater verläßt, hat er meist ein kaum sichtbares Zucken um die Mundwinkel, das man mit gutem Willen als angedeutetes Grinsen auslegen könnte.

Der Gefällige. Kein Schauspieler nimmt ihn wirklich ernst. Er ist immer gut gelaunt und freut sich, daß er umsonst ins Theater darf, wenn auch im Auftrag kleiner Anzeigenblätter oder Privatsender. Politische Stücke findet er provokativ, Komödien amüsant, und Tragödien gehen ihm ans Herz. Dabei kommt es nicht auf die Qualität des Stücks an, denn für ihn zählt auch der gute Wille.

Schauspieler hassen jeden der hier Genannten. Und jeder von diesen genießt das Gefühl, gehaßt zu werden. Kaum ein Kritiker hat nicht mindestens bis zum 75. Lebensjahr im Theater gesessen.


 
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