© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Expertenwissen
Karl Heinzen

Der Landtag von Schleswig-Holstein hat den Zukunftsinteressen der Schüler den Vorzug vor dem vergangenheitsorientierten Sprachempfinden der Eltern und Alten gegeben und die neue Rechtschreibung nun endlich auch im nördlichsten Bundesland als die richtige beschlossen. Wenn die Kinder aus den Herbstferien zurückkehren, dürfen sie fortan gemeinsam gegen den Hass und nicht mehr nur gegen den Haß lernen – hoffentlich werden sie darüber in ihren Bemühungen nicht nachlassen. Das Signal, das in Kiel gesetzt wurde, ist aber nicht bloß ein bildungspolitisches. Mit dem überparteilichen Widerspruch der Gewählten gegen ein Votum der Wähler wird vor allem den Versuchen, die Institutionen unserer Demokratie plebiszitär auszuhöhlen, ein Riegel vorgeschoben. Die Bevölkerung soll nicht in der Vorstellung leben, sie könnte durch Abstimmungen in den Gang der Gesetzgebung korrigierend eingreifen. Sie mag so vielleicht Reformen verzögern, kann aber einem Parlament, das seine Aufgaben ernst nimmt, die Willensbildung nicht entziehen. Aus der ja durchaus nachvollziehbaren Enttäuschung darüber, daß Wahlversprechen in der Regel nicht eingehalten und daher auch nicht eingeklagt werden können, darf nicht als Überreaktion gefolgert werden, daß nun die Bürger sich zu artikulieren und die Initiative zu ergreifen hätten, ohne dazu als gewählte Repräsentanten ihrer selbst legitimiert zu sein. Es läge statt dessen im Interesse der Zukunft unserer Demokratie und damit indirekt auch so mancher der Menschen, dem Parlament den Respekt nicht zu versagen: Die Abgeordneten leisten Beachtliches, wenn sie zwischen denen, in deren Namen, und jenen, in deren Interesse sie ihr Mandat ausüben, vermitteln. Unserem Gemeinwesen wäre bereits damit gedient, wenn die Bürger sich dazu herabließen, diese Bemühungen ihrer Vertreter nicht unbedingt mit mehr Interesse, aber doch mit mehr Vertrauen zu begleiten.

Mit der Absage an eine darüber hinausgehende Partizipation der Menschen weitet sich das Mißtrauen gegenüber der Kompetenz des Staates zu einem solchen gegenüber der Politikbefähigung des Souveräns. Dies könnte sogar durchaus in liberalem Sinn interpretiert werden: Wenn nicht einmal der Staat in der Lage ist, komplexe Gegenwartsprobleme sachadäquat anzugehen, wie sollen dies dann ausgerechnet die einzelnen, auf sich allein gestellten Bürger sein? So lange es Politik gibt, so lange wird es auch Inkompetenz geben: Die Verantwortung dafür sollte bei den staatlichen Institutionen verbleiben und nicht an die Gesellschaft geschoben werden. Sicher ist es der Selbstzufriedenheit unserer Republik abträglich, daß sich der Glaube an das Expertenwissen von Regierung und Abgeordneten nicht mehr so recht entwickeln will. Es wäre aber fatal, wenn nun auch noch die Gesellschaft dadurch desavouiert würde, daß man auf ihre Problemlösungskapazität vertraut.


 
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