© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


CDU-Wahlerfolge: Der Sozialphilosoph Günter Rohrmoser zur Zukunft der Union
"Die Große Koalition kommt"
Dieter Stein

Herr Rohrmoser, die CDU feiert im Moment große Wahlsiege, eilt von Erfolg zu Erfolg. Handelt es sich um einen Strohfeuereffekt?

Rohrmoser: Strohfeuer sind das sicher nicht. Aber es ist nicht das Ergebnis eines normalen politischen Prozesses, an dessen Ende ein großer Wahlsieg einer Partei steht. Die Hintergründe sind vielmehr sehr paradoxer, teils ironischer Art, denn natürlich argumentiert die CDU heute ähnlich, wenn nicht deckungsgleich wie die SPD, als sie selber noch an der Regierung war. Sie können sicher sein, wenn die CDU heute die Regierung in Berlin bilden würde, würde sie sich in einem Jahr wahrscheinlich in einer vergleichbaren Situation befinden wie die SPD. Es ist ein Rollentausch in der Akzentuierung und Auswertung des Themas, dessen, was man die soziale Gerechtigkeit, Beseitigung der sozialen Schieflage oder die Rettung des Sozialstaates nennt. Fest steht, daß – weder die SPD noch die CDU – über ein wirkliches Konzept zur Lösung dieser fundamentalen Reformfrage in der Bundesrepublik verfügt. Deshalb ist das natürliche Ergebnis dieses Prozesses, trotz der katastrophalen Niederlagen der SPD, zunächst eine de facto Große Koalition. Sollte, was durchaus im Bereich des möglichen liegt, Nordrhein-Westfalen für die SPD verloren gehen, ist auch eine formelle Große Koalition höchstwahrscheinlich, weil sich bewahrheiten wird, was jeder Einsichtige seit langem zu erkennen vermochte, nämlich daß die Reform des Sozialstaates nur von beiden großen Parteien zusammen vollzogen werden kann und nicht von einer alleine. Ansonsten wird dies immer diejenige Partei, die jeweils in der Opposition sitzt, in mehr oder weniger demagogischer Weise gegen die regierende Partei wenden, die die mit den Reformen verbundenen Lasten und Verluste auf sich genommen hat.

Im Moment ist dies ja so: Die CDU schlachtet die SPD-Krise aus, koketiert mit einem neuen sozialen Image, setzt sie in der Frage der Entschuldungspolitik aber kaum unter Druck. Wäre nicht auch ein politischer Wettstreit um die schnellere Sanierung der Haushalte und den Rückbau des Staates denkbar?

Rohrmoser: Das ist es ja. Wenn die CDU ehrlich wäre, müßte sie sagen, daß die der Bevölkerung von der SPD zugemuteten Abstriche oder Opfer noch zu wenig sind und daß sie, wenn sie sich an die Regierung begibt, der Bevölkerung noch ganz andere Lasten und Opfer zumuten müßte, wenn Deutschland für die Zukunft eine Chance haben soll.

Worin liegt der Erfolg von Kurt Biedenkopf in Sachsen begründet?

Rohrmoser: Zweifellos ist das Ergebnis deshalb in Sachsen besonders interessant, weil es nicht ausschließlich als Auswirkung der Bundespolitik angesehen werden kann wie die vorausgegangenen Wahlen. Sachsen stellt in der Tat einen Sonderfall dar, für dessen Zustandekommen die Person Biedenkopfs eine besonders große Bedeutung hat. Er hat im Gegensatz zu anderen erkannt, daß die psychische und geistige Stabilisierung der Bürger in den neuen Ländern die Voraussetzung für alles andere ist. Er hat den Sachsen das Selbstbewußtsein wiedergegeben. Biedenkopf dürfte ferner der einzige sein, der eine annäherndes Konzept für die grundlegenden Reformen hat, die wir in Deutschland so dringend benötigen. Man darf aber hinter Biedenkopf nicht die gewichtige Rolle anderer vergessen. Allen voran der Partei- und Fraktionsvorsitzende Fritz Hähle, der ein ganz ungewöhnlicher und integrer Mann ist.

Ich hoffe sehr, daß Kurt Biedenkopf und der Freistaat Sachsen, gestärkt durch das Ergebnis der Wahl, größeren Einfluß auf die Reformpolitik in Deutschland nehmen wird, als dies unter Kohl möglich war. Ich hoffe auch sehr, daß das Modell Sachsen eine vorbildliche Auswirkung auf die übrigen Landesverbände der CDU haben wird, weil in keinem Land der Gefahr deutlicher widerstanden wurde, Politik auf pragmatischen Populismus zu reduzieren.

Biedenkopf hat sich bisher in der CDU nie durchsetzen können.

Rohrmoser: Es wird nicht ausreichen, den Bürgern einfach nur zu sagen, was auf sie zukommt. Biedenkopf ist eben darüber hinaus der erfolgreichste politisch operierende Ministerpräsident in Deutschland – auch noch vor Bayern! Und daß sich die Bürger Sachsens praktisch parteiübergreifend mit ihm als Repräsentanten Sachsens identifizieren, ist keine Schwäche republikanischen Selbstbewußtseins der Sachsen oder Ausdruck zurückgebliebener obrigkeitsstaatlicher Mentalität, sondern ein Beispiel für das, was in der Demokratie eigentlich selbstverständlich ist, nämlich demokratische Führerschaft.

Selbst in NRW steht die CDU kurz davor, die Herrschaft der SPD auch auf Landesebene zu kippen. Landeschef Jürgen Rüttgers führte dies in einem Zeitungsinterview ausdrücklich auch auf die von ihm angezettelte Modernisierungsdebatte zurück. Ist das richtig?

Rohrmoser: Es tut mir leid, aber solch ein blühender Unsinn aus dem Munde eines führenden CDU-Politikers ist mir selten begegnet. Solches Denken begründet neue Niederlagen. In den Erklärungen von Herrn Rüttgers kommt zum Ausdruck, daß die CDU aus ihrer vernichtenden Niederlage vom 27. September 1998, als sie bei 28 Prozent (ohne CSU) war, nur gelernt hat, den Trampelpfad der Anpassung an einen imaginären und im Grunde obsolet gewordenen Zeitgeist zu gehen. Das geht schon los mit dem Gerede über Modernisierung: Es hat doch gar keinen Sinn, von Modernisierung zu reden, wenn man nicht definiert, was modern ist! Es gibt eine tiefschürfende Diskussion über den Begriff und die Krise des Modernen, die auch durchaus kontrovers geführt wird. Wer aber nicht die Maßstäbe und Kriterien jetzt fälliger Kriterien zu nennen vermag, der sollte sich das Wort der Modernisierung der Politik verkneifen.

Rüttgers führt den CDU-Erfolg in NRW auch ausdrücklich auf einen "Paradigmenwechsel in der Ausländerpolitik" zurück.

Rohrmoser: Was heißt hier "Paradigmenwechsel in der Ausländerpolitik"? Es gibt doch überhaupt keinen Paradigmenwechsel in dieser Frage! Statt dessen hat die CDU, die ursprünglich mit der Unterschriftenaktion gegen den Doppelpaß begonnen und die Bürger in ungekanntem Maße mobilisiert hat, um die doppelte Staatsbürgerschaft zu verhindern ...

... war die Unterschriftensammlung, dieses pläbiszitäre Element, nicht der Schlüssel zur Erfolgsserie der CDU?

Rohrmoser: Das war der Schlüssel zum Erfolg! De facto wurde aber dann die Diskussion nicht um die Verhinderung des Doppelpasses geführt, sondern um die Integration der Ausländer in Deutschland. Die Integrationsforderung hat nichts mit einem Paradigmenwechsel zu tun, sondern sie ist Ausdruck eines rein methodischen Streits zwischen den Grünen und der CDU. Daß die Bürger in Hessen in Scharen zu den Ständen der CDU gelaufen sind, um ihre Unterschriften gegen den Doppelpaß zu leisten, war die artikulierte Forderung des Volkes nach einem Paradigmenwechsel ganz anderer Art, als den, von dem Herr Rüttgers jetzt spricht.

Bei den letzten Landtagswahlen kamen unterschiedliche rechte Parteien in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde, in manche Landtage wurde der Sprung geschafft. Muß sich die Union damit abfinden, daß es rechts neben ihr in Zukunft immer öfter eine parlamentarische Rechte gibt?

Rohrmoser: Wir sind von dieser Situation noch weiter entfernt, als mancher Rechte glaubt. Es ist das alte Übel: Die Rechte in Deutschland, die ohnehin schon schwach ist, zersplittert sich noch weiter. In Sachsen haben sich die Stimmen auf über fünf Prozent addiert, doch sie verteilten sich auf unterschiedliche Listen. Außerdem wird künftig folgender Effekt eintreten: Je dramatischer sich die Verhältnisse in Deutschland und die Lage auf dem Arbeitsmarkt entwickeln, um so mehr müssen sich die rechten Parteien auf noch geringere Stimmenzuwächse einstellen. Bei zentralen sozialen Problemen wenden sich die Menschen sich wieder den beiden großen Volksparteien zu.Es gäbe eine Alternative zum Elend der zersplitterten deutschen Rechten: Dies zeigen die Erfolge der Freiheitlichen in Österreich – zuletzt in Vorarlberg –, wo Haider nun eine noch größere Aussicht hat, Bundeskanzler zu werden.

 

Prof. Dr. Günter Rohrmoser Jahrgang 1927, studierte Philosophie, Theologie und Nationalökonomie in Münster und Tübingen. 1955 promovierte er mit einer Arbeit über Shakespeare, 1961 folgte die Habilitation mit einer Arbeit über Hegel. Ebenfalls ab 1961 war er Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in München und zusätzlich Honorarprofessor an der Universität Köln. Seit 1976 ist er Ordinarius an der Universität Stuttgart- Hohenheim für Sozialphilosophie und politische Philosophie.

Buchveröffentlichungen u.a.: Wandel des Bewußtseins (Stuttgart 1980); Krise der politischen Kultur (Mainz 1983); Religion und Politik in der Krise der Moderne (Graz/Wien/Köln 1989); Der Ernstfall (Berlin/Frankfurt am Main 1994); Christ-liche Dekadenz in unserer Zeit (1996); Geistiges Vakuum – Spätfolgen der Kulturrevolution (1997)


 
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