© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Psychologie: Vor 60 Jahren starb Sigmund Freud
Analytiker mit spätem Ruhm
Volker Kempf

Sigmund Freud, der im Mai 1856 in Freiberg/Mähren geboren wurde, seine Heimat in Wien fand und am 23. September 1939 in London verstarb, ist heute der wohl berühmteste Psychologe überhaupt. Doch der Ruhm Freuds setzte relativ spät ein. Sein epochemachendes Werk "Die Traumdeutung" erschien zwar bereits im Jahre 1900 in erster Auflage. Die Auflagenhöhe war mit 600 Exemplaren allerdings noch sehr gering und erst nach acht Jahren vergriffen.

Wahrscheinlich ist es sein Kollege William Stern (1859–1938) gewesen, der Freud zu seinem Ruhm verholfen hat. Denn mit seiner harschen Kritik an Freuds "Traumdeutung" rückte er diese erst in das Zentrum der Wahrnehmung in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ergebnis: Es bildete sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Meinung heraus, zwei entgegengesetzte Richtungen seien in der Psychologie auszumachen: die der akademischen Psychologie (Stern) und die Psychoanalyse (Freud).

Was war das Neue und so Umstrittene an Freuds Psychoanalyse bzw. Traumdeutung? Sie versprach zunächst eine wissenschaftliche Theorie für das bis dahin den Mystikern und Wahrsagern vorbehaltene metaphysische Phänomen des Traumes. Jeder Traum stellte nach Freud eine Wunscherfüllung dar. Auch wenn im Traum Unerwünschtes, Trauriges und Angsteinjagendes hervortrete, ergebe die an die Traumerinnerung geknüpfte Analyse, daß die scheinbar belanglosen Bestandteile des Traumes auf Vorstellungen verweisen würden, die mit Wünschen des Träumenden aus seiner Kindheit in Zusammenhang stünden. Als Beispiele wählte Freud oft seine eigenen Träume.

Bei Stern lösten Freuds Ansätze nur Kopfschütteln aus; denn an Freuds Buch sei "nicht weniger als alles" zu bestreiten. Schließlich beruhe das Traumdeutungsverfahren von Freud auf Selbsterfahrungen und auf einer Voreingenommenheit seiner eigenen Theorie gegenüber. Ferner bestehe kein Grund zu der Annahme, daß die freie Assoziation zum Traum im Wachzustand eine Wiederholung der Traumarbeit darstelle; eher werde eine Behauptung an Stelle eines Beweises gesetzt – und damit werde nichts aus-, sondern nur etwas untergelegt. Stern warnte vor Freuds "Traumdeuterei", da mit ihr die Gefahr groß sei, "daß unkritischen Geistern dieses interessante Vorstellungsspiel behagen könnte und wir damit in eine völlige Mystik und chaotische Willkür hineingerieten – man kann dann mit allem alles beweisen".

Stern traf Freuds sehr persönliches Werk, das die Frucht jahrelanger Mühen war, am wunden Punkt, nämlich an der mangelnden objektiven Überprüfbarkeit sowie der drohenden Willkür, die mit Freuds Ansätzen betrieben werden kann. Heute hat die Traumdeutung in der Psychologie ihren festen Platz, gleichwohl erfordert sie mehr Praxiserfahrung als Kenntnisse über wissenschaftliche Methoden.

In den Jahren nach der "Traumdeutung" veröffentlichte Freud weitere wichtige Werke. So 1902 "Zur Psychopathologie des Alltagslebens", aus dem der sogenannte Freudsche Versprecher in unseren Sprachgebrauch eingegangen ist, sowie "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905).

Heute wie damals gilt der sexualtheoretische Rückgriff Freuds selbst bei seinen Schülern wie Carl Gustav Jung (1875–1961) als überzogen. Doch Freuds Theorien, insbesondere von der infantilen Sexualität, verselbständigten sich und brachten bei namhaften Pädagogen und Psychologen das Faß zum Überlaufen; sie veröffentlichten 1914 eine "Warnung vor den Übergriffen der Jugend-Psychoanalyse". Denn Kinder wurden in der Erziehung mit verfänglichen Fragen belästigt, zur Selbstbeobachtung angehalten und damit ihrer kindlichen Unbefangenheit und Glückfähigkeit beraubt.

Ist auch heute noch vieles aus der frühen Kritik an Freuds Psychoanalyse und ihren Ablegern lehrreich, so haben sich in der Psychologie viele von Freuds innovativen Ansätzen nicht nur durchgesetzt, sondern auch zu einer gründlichen Umgestaltung der psychischen Lehren geführt.

Gerade auch Freuds Arbeiten über Verdrängungsmechanismen haben in Psychologie und Sozialpsychologie ihren festen Platz. Ein weit verbreiteter Irrtum ist allerdings, daß Verdrängungen per se schlecht seien. Würden wir uns ständig unserer verdrängten Traumata bewußt sein, würden wir schlicht verrückt werden. Problematisch wird es nur, wenn wir uns eines verdrängten Traumas nicht erinnern können, das uns aber alltäglich zum Problem wird, weil wir es zwanghaft zu wiederholen beginnen. Dann ist es Zeit, Verdrängtes gegen alle Selbstblockaden durchzuarbeiten.

Die Notwendigkeit einer Durchdringung des Verdrängten hat für unsere Zeit und ins Sozialpsychologische gewendet kürzlich der Kommunikationsphilosoph Norbert Bolz in dem von Andreas Kuhl-mann herausgegebenen Band "Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne" herausgearbeitet. Bolz konstatiert als "prägnantes Phänomen der Dynamik, die Freud als Wiederkehr des Verdrängten bezeichnet hat", den Bankrott des Sozialismus und die damit verbundene Konjunktur der konservativen Kulturkritik, die in die Weimarer Republik zurückreiche. Die diesbezüglichen Erinnerungen an die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre, die mit Angst-Blockaden und dem Ruf nach Ethik in Wissenschaft und Öffentlichkeit abgewehrt würden, gelte es nun zu durchbrechen. Denn dann könne ein deutsches Trauma überwunden und das Denken von der Zensur einer antifaschistischen Gesinnung befreit werden. Durchbrecht also die Blockaden und Denktabus, geht zurück "in jene Zwischenkriegszeit, in der die Weichen unseres Denkens gestellt wurden", lautet Bolz’ Plädoyer. So ist Freud 60 Jahre nach seinem Tod hochaktuell und löst, wie es sich für einen Psychoanalytiker gehört, bei all jenen Abwehrreaktionen aus, die bei ihm etwas über sich und die eigenen Verdrängungen erfahren möchten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen