© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Philosophie: Zur Kontroverse um Peter Sloterdijks Elmauer Rede
Gute Bücher und böse Menschen
Baal Müller

Regeln für den Menschenpark" heißt die Rede des Philosophen Peter Sloterdijk, die das gegen seinen ewigen Faschismus kämpfende Etablissement der Mahner und Warner in Aufruhr versetzt. Die diskursethischen Prinzipien dieser herrschaftsfreien Diskussionen und deren geistiges Niveau sind ebenso hinlänglich bekannt wie ihre maßgeblichen Medien und Protagonisten und werden von den letzteren tagtäglich vorexerziert. Weiteres dazu erübrigt sich also, zumal Sloterdijk bereits selbst auf das Alarmgeschnatter der modernen "kapitolinischen Gänse" geantwortet hat.

Immerhin bleibt festzustellen, daß lautes Schnattern und aufgeregtes Flügelschlagen immer weniger ausreicht, um diejenigen, die gelegentlich wirklich etwas zu sagen haben, zu übertönen und aus dem Gänsestall der Medien zu vertreiben. Wenn im folgenden also noch einmal Sloterdijks bereits im Juli im bayerischen Elmau gehaltene Rede betrachtet werden soll, dann nicht, um gegen das Schnattern anzupiepsen, sondern im Interesse eines sachlichen Nachvollzugs.

Schon der Titel ist ein wenig irreführend, denn Sloterdijk stellt in seinem Vortrag gar keine Regeln auf, nach denen das menschliche Zusammenleben organisiert werden müsse; er behandelt auch nicht primär, sondern erst im letzten Viertel seiner Rede das Thema der Manipulation des menschlichen Genoms, und am allerwenigsten bejubelt er künftige "faschistische" Selektionsprogramme zur Züchtung eines "Übermenschen", wie einige seiner Kritiker gelesen haben wollen.

Sloterdijks Vortrag handelt von der historischen Funktion sowie dem angeblichen heutigen Scheitern des abendländischen Humanismus. Der Untertitel "Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus" ist in dieser Hinsicht etwas deutlicher: Zum einen nimmt er auf Heideggers 1946 an Jean Beaufret gerichteten Brief über den Humanismus Bezug, in dem der Philosoph das Versagen des alten und die Bedingungen eines neuen Humanismus erörtert; zum anderen bereitet er die leitende Metapher vor, die Sloterdijks Text durchzieht, nämlich die Vorstellung, es handle sich bei den Erzeugnissen unserer kulturellen, eben "humanistischen" Tradition gleichsam um Briefe, die in der Vergangenheit an unbekannte Empfänger verschickt wurden. Aus der Kenntnis dieser "Briefe", zu deren Lektüre jede Generation der höheren Stände erneut angehalten worden sei, habe sich die humanistische "Gelehrtenrepublik" entwickelt. Auch die Ausbildung der Nationalstaaten habe in wesentlichem Maße auf der Kanonisierung dieser Texte beruht, auf der Herstellung eines Konsenses darüber, welche von ihnen als besonders wichtig zu gelten hätten und bevorzugt zu vermitteln seien, um eine kulturelle Basis für nationale Identität zu schaffen: "Neben den gemeineuropäischen antiken Autoren werden darum nun auch die nationalen und neuzeitlichen Klassiker mobilisiert – deren Briefe ans Publikum werden durch den Büchermarkt und die höheren Schulen zu wirksamen Motiven der Nationenschöpfung überhöht."

Der Begriff der Mobilisierung deutet an, daß dieser Prozeß auch gewisse Zwänge impliziert habe; zwar seien Bücher nach Jean Paul dickere Briefe an meist noch unbekannte Freunde, und das Freundschaftsparadigma sei für den Humanismus stets von großer Wichtigkeit gewesen – dennoch besitzt diese kulturelle Domestizierung für Sloterdijk etwas Gewaltsames: Die Völker organisierten sich als "durchalphabetisierte Zwangsfreundschaftsverbände", die im "Zeitalter der bewaffneten und belesenen Humanität" die "allgemeine Wehrpflicht" und "allgemeine Klassiker-Lesepflicht" anordneten. Neben der Identitätsstiftung habe diese Pädagogik jedoch noch ein anderes Ziel verfolgt: "Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei."

Schon der antike Humanismus und erst recht die verschiedenen neuzeitlichen Versuche, seine Renaissance zu bewirken, sind für Sloterdijk Erziehungskonzepte, die sich gegen die bestialisierenden, "enthemmenden" Einflüsse von Amphitheater und Actionfilm, Gladiatorenkämpfen und Gewaltvideos richten. Dieses Konzept sei heute allerdings gescheitert; die traditionelle Buchkultur habe den Massenmedien und ihrer zentrifugalen Gewalt keine ausreichende integrierende und domestizierende Kraft mehr entgegenzusetzen, weshalb neue Anstrengungen gefordert seien.

Der zweite Teil von Sloterdijks Rede stellt eine Reflexion über Heideggers Begriff des Humanismus dar und kommt zu dem Ergebnis, daß die humanistische Bestimmung des Menschen als anima rationale dessen eigentliches Wesen verfehlt habe und daß die humanistische Pädagogik ihn deshalb nicht vor dem Rückfall in die Bestialität schützen könne, ja, daß der Humanismus selbst diese sogar in seiner ideologischen Entartung selbst befördere.

Sloterdijk bestimmt den Menschen mit Heidegger von seiner existenzialen Verfassung her als "Lichtung des Seins", bzw., stark vereinfacht, als das einzige Wesen, dem ein verstehendes Verhältnis zur Welt, ungeachtet aller humanistischen Bildung, möglich sei. Anders als Heidegger, für den biologische oder anthropologische Theorien des Menschen dessen eigentliche Existenz verfehlen, glaubt Sloterdijk allerdings unter Rekurs auf Plato im dritten Teil seiner Rede die "humane" Besonnenheit, die dem Menschen trotz seiner tierischen Abkunft gegeben sei, als Ergebnis einer biologischen Evolution verstehen zu sollen.

Da "es mit der erzieherischen Zähmung und Befreundung des Menschen mit dem Buchstaben allein zu keiner Zeit getan sein konnte", erlaubt sich Sloterdijk, die Frage nach der genetischen Selbstzähmung des Menschen zu stellen. Nur unter dieser Perspektive eines Schutzes des Menschen vor sich selbst – und nicht aus Interesse an der Zucht eines "Übermenschen" – erwägt er die künftigen Möglichkeit einer das Erbgut optimierenden "Anthropotechnik", die ja in Ansätzen bereits existiert.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Thema ist sicher sinnvoller als die Leier der üblichen Betroffenheitskatechismen; zumal Sloterdijks Ausführungen im einzelnen nicht immer überzeugen. Die Reduktion des Humanismus auf Klassikerlektüre ist zum Beispiel ebensowenig sinnvoll wie seine ausschließlich pädagogische Bestimmung als Instrument der Zähmung und Züchtigung. Warum sollten nahezu alle "humanistischen" Autoren nichts anderes als dies im Sinne gehabt haben, während allein Heidegger oder Nietzsche außer- und oberhalb der humanistischen Tradition stünden? Des weiteren ist die Unterscheidung zwischen "hemmenden" und "enthemmenden" Medien ebenso schematisch wie die pauschale Entgegensetzung von angeblich überholter Buchkultur und neuen Kommunikationsmitteln.

Schließlich ist auch zu bezweifeln, ob die Erziehung des Menschen tatsächlich eher eine "anthropotechnische" als eine kulturelle Aufgabe ist; vielmehr spricht einiges dafür, daß sich die von der Gesellschaft gewünschten Eigenschaften durch Eingriffe in das Erbgut nicht erzielen lassen, da der menschliche Charakter sich nicht additiv aus einzelnen, genetisch bestimmbaren Elementen zusammensetzt, sondern aus einem unübersehbar komplexen Zusammenwirken endogener und exogener Faktoren resultiert. Die meisten Eigenschaften sind schließlich für sich genommen weder gut noch schlecht, sondern der gesamte Kontext ihres genetischen Substrates sowie ihre soziokulturelle Entfaltung sind dafür verantwortlich, ob eine zunächst noch indifferente Merkmalspotenz eher als "Selbstbewußtsein" oder als "Egoismus", ob eine andere als "Anpassungsfähigkeit" oder als "Opportunismus" in Erscheinung tritt.

Unabhängig von der Beurteilung einer gentechnischen Utopie, ihrer realen Machbarkeit und Wünschbarkeit sowie ihrer Auswirkungen auf gesellschaftliche Moralvorstellungen – etwa auf eine neue Interpretation dessen, was als "Leistung" oder als "Schicksal" zu gelten hat – ist ihre Reflexion notwendig und legitim; das Niederknüppeln einer entsprechenden Diskussion mit der "Faschismuskeule" bewirkt sicher keinen verantwortungsvollen Umgang mit der Gentechnik, sondern eher deren ungehindertes Wuchern. Da die ethische Reflexion einer neuen Technologie dieser grundsätzlich nachhinkt und sie erst recht nicht zu stoppen, sondern allenfalls ein wenig zu steuern vermag, ist ihrer Behinderung – etwa durch selbstaffirmative Tugendwächter einer altväterlich-autoritären oder gesinnungsschnüffelnden "Kritischen Theorie" – unbedingt entgegenzutreten.


 
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