© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Erzählung / Von Leib und Seele. Berichte
Tragische Familiengeschichte
Doris Neujahr

Heimat ist / Wo die Rechnungen ankommen", höhnte Heiner Müller in einem späten Gedicht über die bundesdeutsche Manie, sämtliche Lebensbereiche auf ökonomische, finanzielle und soziologische Parameter zu reduzieren. Noch vor gar nicht so langer Zeit wurde diese eingeschränkte Wahrnehmung als fortschrittlich verkauft. Aus dieser Haltung heraus wurden Vertreibung und Heimatverlust als statistisch zu erfassende Ereignisse behandelt, die sich mit dem Lastenausgleich und der wirtschaftlichen Integration der Vertriebenen erledigt hätten. Wer Heimat als eine erste bewußt erfahrene Wirklichkeit definierte, in der man zunächst selbstverständlich aufgehoben ist, an die man sich auch fernerhin erinnert, der man seine Besorgtheit widmet und deren Auslöschung daher als traumatisch erfahren wird – wer seinen Heimatbegriff in diesem Sinne festlegte, setzte sich automatisch dem Generalverdacht der Blut-und-Boden-Ideologie aus. Das Vokabular, das 1950 Eingang in die Charta der deutschen Heimatvertriebenen fand: "Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen bedeutet ihn im Geiste töten", klang da wie eine Nachricht nicht bloß aus einer anderen Zeit, sondern von einem fremden Stern. So bezeichnete der Historiker Wolfgang Benz in seinem mehrfach aufgelegten Standardwerk "Die Vertreibung der Deutschen" (1984) die These vom weiterwirkenden Vertreibungsschicksal als "Legende".

Inzwischen ist klar, daß die kollektive Erinnerung an die Vertreibung und an den Untergang der deutschen Ostprovinzen keineswegs mit dem Abtritt der Erlebnisgeneration verschwinden wird. Aus der Traumaforschung ist bekannt, daß seelische Erschütterungen, die von den Betroffenen selbst nicht aufgearbeitet worden sind, an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und in deren Bewußtsein weiterarbeiten. Inzwischen bahnt sich auch in der deutschen Geschichtswissenschaft eine neue Sichtweise an. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel verwies während einer wissenschaftlichen Tagung zum "Jahrhundert der Vertreibungen", die Ende Mai an der Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder stattfand, auf die zahlreichen Spuren, die Flucht und Vertreibung im privaten wie im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hinterlassen haben. Diese gelte es zu "dechiffrieren".

Die beiden Bücher des 1952 geborenen Schriftstellers Hans-Ulrich Treichel haben diese Kehrtwende vorweggenommen und in gewisser Weise schon begründet. Treichel ist selber ein Nachkomme von Heimatvertriebenen. Vor über einem Jahr erschien seine Novelle "Der Verlorene", eine meisterhafte Prosa über die deutsche Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit, in der die Vertreibung der Eltern aus Ostpreußen als Vergangenheit, die nicht vergehen will, ständig präsent ist. Nach dem Erfolg dieses Titels hat Suhrkamp die Textsammlung "Von Leib und Seele" herausgebracht, für die Treichel 1993 den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis erhielt. Zuvor war der Autor, der in Versmold in Ostwestfalen geboren wurde, mit einigen Gedichtbänden hervorgetreten, seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Die acht Texte der Sammlung sind autobiographisch angelegt. Der sakrale Titel "Von Leib und Seele" signalisiert, daß es hier um Dinge geht, die den Autor existentiell berühren. Der erste Text handelt von den Kindheitsjahren in der ostwestfälischen Geburtsstadt, "einer trübsinnigen Ansammlung von Zweifamilienhäusern und Umgehungsstraßen". In der elterlichen Wohnküche hängt eine Fotografie von Preußisch-Holland, während den Neuankömmlingen, den "Menschen aus dem Osten", draußen Mißgunst, Mißtrauen, Ablehnung entgegenschlagen. Der Wohlstand, zu dem einige Neuankömmling gelangen, steht ihnen in den Augen der Einheimischen nicht zu: "Denn wer aus dem Osten kam, der war in den Augen der Alteingesessenen ein minderwertiger und von seinem Grund und Boden wahrscheinlich völlig zu Recht vertriebener Mensch, und so fühlte auch ich mich in meinem Geburtsort zumeist als ein minderwertiger und aus einer mir zudem völlig unbekannten Heimat wohl zu Recht vertriebener Mensch (...)." Diese Spannungen vergiften auch die familiären Beziehungen, vor allem das Verhältnis des Erzählers zu seinen Brüdern, sie unterminieren sein Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, seine Außenwelt einzuschätzen und mit ihr zurechtzukommen. In den Texten gibt es eine Reihe von Szenen, in denen die aus einer traumatischen Kindheit herrührende, bestürzende Hilflosigkeit und Verlorenheit zutage tritt, die den Erzähler als eine im bürgerlichen Sinne "gescheiterte Existenz" erscheinen läßt.

In der Novelle "Der Verlorene" werden diese Motive vertieft. Es handelt sich um die Ich-Erzählung eines Anfang der fünfziger Jahre Geborenen, der gleichfalls in Ostwestfalen aufwächst. Die Eltern sind Bauern aus Ostpreußen, ihr Treck wurde am 20. Januar 1945 in einem Dorf westlich von Königsberg von den Russen überrollt, die Mutter von den Russen vergewaltigt. Im Chaos ging der einjährige Sohn Arnold verloren, den die Mutter einer fremden Frau in den Arm drückte. Den Handlungsfaden bildet die langwierige, quälende Suche der Eltern nach dem verlorenen Sohn. Der Verlust Arnolds steht pars pro toto für einen umfassenden, elementaren Verlust, gleich zu Beginn der Erzählung heißt es: "Zuhaus, das war der Osten, und der Bruder war im Osten geboren worden. Während die Mutter das Wort ‘Zuhaus’ aussprach, begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war."

Beim Betrachten des Fotoalbums macht der Erzähler eine seltsame Entdeckung: Arnold, der noch in Ostpreußen fotografiert wurde, ist als vollständiger kleiner Mensch abgebildet, während von ihm selber, dem im Westen geborenen Nachkriegskind, stets nur Körper- oder Gesichtsfragmente zu erkennen sind. Die Rekonstruktion der Biographie anhand der Fotografie mißlingt, die durch Krieg und Vertreibung verursachten Brüche sind so massiv, daß das Leben der Familie nur noch ein fragmentarisches ist, das sich nicht mehr in der kleinbürgerlichen Ikonografie des Fotos erfassen läßt. Der Verlust Arnolds findet seine Entsprechung im Ich-Verlust des Erzählers, den die Eltern zu einem "Arnold-Ersatz" machen wollen.

Die Eltern bringen es nicht über sich, ihr neues Haus für längere Zeit unbeaufsichtigt lassen. Nur am Wochenende brechen sie, gleichsam einem Pflichtethos gehorchend, zu kurzen Ausflügen auf. Es sind unfrohe Unternehmungen, die dem Jungen zur Qual werden; rückblickend erkennt er, "von Anfang an in einer von Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre aufgewachsen" zu sein. Die Eltern versuchen, eine Lebensnormalität in Ritualen wie dem jährlichen Schlachtfest aufrechtzuerhalten, das sie gemeinsam mit anderen Ostpreußen begehen. Diese Feste sollen auch die in der Bibel geschilderte Freudenfeier vorwegnehmen, zu der der Vater nach der Heimkehr seines verlorenen Sohnes einlädt. Da die Heimkehr aber nicht stattfindet, enden sie im enttäuschten Schweigen.

Die Eltern kommen als Fleischgroßhändler zu Wohlstand, der sich augenfällig in immer größeren Autos äußert. Die Ausdünstungen der Kunstlederbezüge lösen bei dem Jungen regelmäßig Brechreiz aus, der Surrogatcharakter wird körperlich greifbar. Das Haus in Ostwestfalen, das für ihn bereits eine mythische Kindheitshöhle ist, fällt dem Arbeits- und Modernisierungswahn zum Opfer, es wird entkernt, dem Zeitgeschmack angepaßt, damit erinnerungslos und beliebig. Der Vater weiß um seinen Selbstbetrug. "Konkurrenz belebt das Geschäft", diese aufmunternde Banalität gerinnt ihm in Stunden der Wahrheit zur bitteren Formel: "Das Leben ist ein Kampf".

Treichel beschreibt eine tragische Familiengeschichte aus den fünfziger Jahren als Realgroteske. Mit fortlaufender Lektüre bemerkt der Leser, wie Treichels präzise Sprache, die die Gegenstände spiralförmig umkreist, ironisch funkelt, sarkastisch wird und Gleichnischarakter annimmt. Die Suche nach Arnold wird unterdessen immer skuriler. Die Eltern glauben zu wissen, daß eine vom Suchdienst als "Findelkind 2307" ausgewiesene Waise mit Arnold identisch ist. Der Erzähler wird zum Objekt für vergleichende Schädelmessungen, für Bauchlinien- und Stirnhöckeruntersuchungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Gnadenlose Wissenschaftlichkeit soll den Identitätsbeweis erzwingen und den Verlust aufheben. Das vervollständigt die Irritationen des Erzählers über seine Identität. Hatte er Arnold zunächst als eine Art heroisches Opfer empfunden, das ihn aus der Gewöhnlichkeit heraushob, wird ihm der nunmehr "untote Bruder" zum Vampir, der ihm das eigene Ich raubt. Als er und das "Findelkind 2307" sich am Schluß der Erzählung kurz begegnen, begreifen sie sich als Doppelgänger, die sich ihre Verlorenheit gegenseitig bestätigen.

"Der Verlorene" ist eine subtile Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik. Treichel hat mit einer seltenen Genauigkeit gezeigt, wie die Folgen der Vertreibung der Bundesrepublik einen nachhaltigen Stempel aufdrückten. Auch gibt es nur wenige literarische Texte, in denen der Elterngeneration soviel einfühlendes Verständnis zuteil geworden ist wie hier. Was heute leichthin als Verdrängungsmentalität und Bigotterie der Adenauer-Arä verurteilt wird, liest sich bei Treichel als eine tragische und vielleicht alternativlose Überlebensstrategie. Eine Überlebensstrategie, die andererseits den Aufstand der Söhne gegen die Eltern evozierte: "Ich wurde das, was man einen schwierigen Jungen nennt, undankbar, widerborstig und ständig gereizt, der der Mutter besonders dann zusetzte, wenn es ihr schlecht ging." Die Revolte von 1968 liegt außerhalb des Zeitrahmens dieses Buches, aber sie ist in nahezu jeder Zeile gegenwärtig – und ihre Aufhebung im Hegelschen Sinne ebenfalls. Hans-Ulrich Treichel ist mit dieser Novelle zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des Jahrzehnts geworden.

 

Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Erzählung. 176 Seiten, 32 Mark; Von Leib und Seele. Berichte. 86 Seiten, 10,80 Mark, beide: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998


 
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