© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Kolumne
Masuren-Sommer
von Klaus Hornung

Ein langgehegter Wunsch ging in Erfüllung: das "Land der dunklen Wälder und der stillen Seen", wie es im Ostpreußenlied heißt, kennenzulernen. In der Masurischen Seenplatte reichen die Wälder tatsächlich oft bis an das südlich blaue Wasser. Arno Suminski und Siegfried Lenz versprechen nicht zuviel, eine Natur wie am ersten Schöpfungstag. Und dann die große Geschichte in ihrem Bogen vom Deutschen Orden um 1250 über das preußische Erbe des Ordenslandes und Johann Gottfried Herder aus Mohrungen bis zum Sieg Hindenburgs und Ludendorffs über die russischen Invasoren 1914 und bis zur Katastrophe der Vertreibung im Winter 1945. Die Marienburg, die größte Burg der Welt, 1945 fast nur ein gigantischer Schuttberg, ist in ihrer alten Herrlichkeit wiedererstanden. Der Blick vom westlichen Nogatufer zeigt sie erst in ihrer ganzen massigen Wucht. Ortelsburg, heute Szczytno, wo der Flugplatz liegt, den man in zweieinhalb Stunden von Stuttgart aus erreichen kann, erinnert an das "Ortelsburger Publicandum", mit dem König Friedrich Wilhelm III. 1806 die preußische Heeresreform einleitete, die dann Scharnhorst, Gneisenau und Hermann von Boyen durchführten. Letzterer stammte aus Lötzen inmitten der Seenplatte, und hier erinnert heute noch die "Feste Boyen" an die preußische Zeit. Sie beherbergt jetzt ein kleines Museum, das auch an General von Hindenburg erinnert, der hier nach der Schlacht an den Masurischen Seen 1915 sein Hauptquartier hatte. Gleich daneben liegt eine polnische Garnison in den alten deutschen Kasernen.

Gegenwart ist auch Mikolaiki, das alte Nikolaiken, als Zentrum des Wassersports, dem vor allem junge Polen aus den übervollen Plattenbau-Städten, aber auch deutsche Touristen frönen. Hier "arbeitet" die deutsche Lutherische Kirche, einstiges Zentrum der protestantischen masurischen Bevölkerung. Und der Spätsommer lockt natürlich Touristenbusse mit deutschen Heimwehtouristen in die alte Heimat. Dies war einst die Kornkammer Preußen-Deutschlands, sagen sie. Heute sind große Teile des Bodens unbebaut und verwildert. Die Arbeitslosigkeit in der Provinz. vor allem der Jugendlichen, beträgt nahezu 25 Prozent. Die polnische Landbevölkerung lebt vielfach von bloßer Subsistenzwirtschaft. Die Perspektive der Angleichung an westliche Lebensverhältnisse ist erschreckend. Die Eindrücke des deutschen Besuchers können kaum zwiespältiger sein: Hier die romantischen Wälder, Seen, Dörfer und Alleen, dort Armut und Verfall, aber auch schon ungebremste Motorisierung. Ostpreußen lebt zwischen Gestern und Morgen, preußisch-deutscher Vergangenheit, polnischer Gegenwart und europäischer Zukunft. Wie wird es dort wohl in hundert Jahren aussehen?

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politische Wissenschaft an der Universität Stuttgart Hohenheim.


 
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