© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Dagestan: Der Verlust der Herrschaft über den Kaukasus wäre das Ende Moskauer Großmachtträume
Muslime vor den Toren Rußlands
Michael Wiesberg

Der Alptraum russischer Politiker hat einen Namen: Schamil Bassajew. Seit dem Zerfall der Sowjetunion kämpft der studierte Agrar-ingenieur für die Unabhängigkeit des Kaukasus. Im Tschetschenienkrieg machte sich Bassajew einen Namen als unerbittlicher Rebellenführer, der die russischen Truppen das Fürchten lehrte. Jetzt steht Bassajew wieder an der Spitze einer islamistischen Rebellenarmee, die die Unabhängigkeit Dagestans von Rußland herbeizwingen will. Unterdessen hat dieser Krieg auf Tschetschenien übergegriffen und droht zu einem Flächenbrand zu entarten, der das Ende der russischen Hegemonie über den Kaukasus bedeuten könnte.

Der Dagestan-Konflikt reiht sich ein in eine Reihe von Konflikten, die unter den Leitbegriffen Rasse, Ethnie und Religion stehen könnten. Das Ende des Sowjetimperiums hat in den Nachfol- gestaaten der Sowjetunion die Büchse der Pandora geöffnet, in deren Mittelpunkt die oben genannten Leitbegriffe stehen. Daß Rußland diesen Konflikten zunehmend hilflos gegenübersteht, zeigt den dramatischen "Muskelschwund", den Rußland in den vergangenen Jahren erlitten hat. Dieser "Muskelschwund" ist es, der "Warlords" wie Bassajew und Chattab, Anführer der in Dagestan eingesickerten "Gotteskrieger", an ihren Erfolg glauben läßt. Beide sind fest davon überzeugt, daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Russen aus Dagestan abziehen müssen.

Keine Verhandlungen mit den Abgesandten Moskaus

Was sind die Motive der von Bassajew angeführten Rebellenarmee? In einem Interview am 9. September für die in Prag erscheinende Zeitung Lidove Noviny erklärte Bassajew, daß es in Dagestan angeblich viele politische Parteien und Strömungen gebe, die für die Unabhängigkeit des Landes einträten.

Einige Vertreter dieser Kräfte seien an ihn herangetreten und hätten ihn gefragt, ob er die Führung einer Gotteskrieger-Armee übernehmen würde. Bassajew legt Wert auf die Feststellung, daß seine Gotteskrieger Dagestan erst betreten haben wollen, nachdem russischen Einheiten und Moskau-treue dagestanische Verbände zum Beispiel in den dagestanischen Provinzen Botlich und Zumada Muslime umgebracht haben sollen. Aus dieser Behauptung leitet Bassajew die Legitimation für den Krieg gegen Rußland ab: "Moskau zerstört uns", erklärt er gegenüber den Redakteuren von Lidove Noviny.

Verhandlungen mit Moskau schließt Bassajew rigoros aus. Rußland sei, so Bassajew, in der Hand von Geheimagenten. Bassajew spielt damit auf den gegenwärtigen Premierminister Putin und dessen Vorgänger Stepaschin an. Deren Regierung zeige, daß sich Rußland immer schneller auf den Abgrund zubewege und vor dem totalen Zusammenbruch stehe. Der russische Versuch, den Dagestan-Konflikt mit Gewalt in den Griff zu bekommen, werde zu nichts führen, weiß Bassajew.

Neben Bassajew muß der aus Jordanien stammende Chattab zu den herausragenden Köpfen der Gotteskrieger gezählt werden. Er soll laut einem Bericht von Associated Press (AP) vom 14. September die Gotteskrieger im südlichen Teil Dagestans anführen. Chattab wird von einigen Beobachtern auch als Drahtzieher für die verheerenden Sprengstoffanschläge in Moskau eingestuft. AP zitiert Chattab mit der Drohung: "Von jetzt an werden unsere Bomben überall explodieren. Die Russen müssen sich auf unsere Anschläge in ihren Städten einstellen. Ich schwöre, wir werden es tun."

Dieser Drohung sind inzwischen Taten gefolgt, denen fast dreihundert Moskauer zum Opfern gefallen sind. Chattab ließ unterdessen aber über Interfax in Grosny verkünden, daß die Rebellen in Dagestan nicht mit denjenigen Kräften verglichen werden wollten, die schlafende Zivilisten mit Sprengstoff umgebracht hätten. Vermutungen russischer Beobachter, daß Chattab mit dem saudi-arabischen Terroristen Osama bin Laden kooperiert, konnten bisher allerdings nicht bestätigt werden. Andere halten bin Laden und Chattab für Rivalen.

Es gibt allerdings eine Reihe von erstaunlichen Parallelen zwischen beiden Fundamentalisten. Beide entstammen wohlhabenden Familien und gehören der fundamentalistischen wahhabitischen Sekte an. Diese Sekte, nach ihrem Stifter Abd-al-Wahhab benannt, ist eine puritanische Bewegung innerhalb des sunnitischen Islams. Ziel dieser Sekte ist die Wiederherstellung der "echten" Sunna. Unter "Sunna" ist die gesammelte Überlieferung über Leben, Wirken und Lehre Mohammeds zu verstehen. Vor diesem Hintergrund sehen sowohl bin Laden als auch Chattab ihr Wirken als Bestandteil eines flächendeckenden "heiligen Krieges". Die Anfänge dieses Krieges liegen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, als Chattab, bin Laden und andere Fundamentalisten sich am Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan beteiligten. In der Kette der kriegerischen Auseinandersetzungen folgten Algerien, Ägypten, Bosnien, Tschetschenien und jetzt Dagestan. Diese militanten Islamisten betreiben ein Netzwerk, das die entsprechende Logistik für die Kämpfe der Gotteskrieger bereitstellt.

Auf einen derartigen Krieg ist Rußland in keiner Weise vorbereitet. Dies zeigt zum Beispiel die abgelaufene Konferenz der Russischen Akademie für Militärwissenschaften (AVN) vom 30. Juni dieses Jahres, die sich um die Zukunft kriegerischer Konflikte drehte. Dort wurde über den Einfluß neuer Waffensysteme auf Strategie und Taktik, über die Konsequenzen des Kosovokrieges und vieles andere mehr geredet, nicht aber über ein Szenario, mit dem die russischen Armee bereits einige Wochen später konfrontiert war. Dieses Manko hat die Russen gezwungen, bei den USA und anderen westlichen Staaten um Nachhilfe in Sachen Terrorismusbekämpfung zu bitten. "Es ist das erste Mal in der Geschichte, das sich Rußland in einer derartigen Situation befindet", erklärte der russische Innenminister Ruschailo.

Und weiter: "Deshalb haben wir Kontakt mit westlichen Kollegen aufgenommen, die über große Erfahrung bei der Bekämpfung des Terrorismus verfügen." Ruschailo und auch Jelzin sind sich sicher, daß Chattab der Verantwortliche für die Anschläge in Moskau ist. Aus der Sicht von Ruschailo sind Chattab und Bassajew Partner.Ihre Anhänger, so erklärt er, steckten hinter den Anschlägen in Moskau. Wie für Bassajew ist auch für Chattab der Kampf der Gotteskrieger ein Kampf ums Überleben: "Die Welt ist Zeuge eines Völkermordes an den Muslimen in Dagestan. Es gibt keine andere Alternative, als zu kämpfen."

Aussagen wie diese kennzeichnen sowohl Bassajew als auch Chattab als "Warlords", die weniger strategisch als vielmehr überlebens- und glaubensorientiert denken. Für sie zählt nur die kollektive Zukunft in einem islamischen Staat. Das brutale Töten des Feindes, auch über Sprengstoffanschläge gegen Zivilisten, dient der Herbeizwingung dieser kollektiven Zukunft. Chattabs und Bassajews Logik: Zeigt man sich in diesem Kampf zimperlich, wird man selbst Opfer eines Völkermordes.

Mehr und mehr zeigt sich in der laufenden Auseinandersetzung, daß diese Rebellen, die obendrein aufgrund des schwierigen Geländes, in dem die Kämpfe stattfinden, relativ gut gegen Luftschläge geschützt sind, nur durch einen Gegner geschlagen werden können, der ihnen ebenbürtig ist. Genau diese Ebenbürtigkeit geht den mangelhaft motivierten Soldaten der russischen Armee ab. Rußland droht daher ein gravierender Hegemonieverlust über den Kaukasus mit weitreichenden Folgen.

Rußlands Erdölgeschäfte sollen lahmgelegt werden

Vor allem ist die Partizipation Rußlands an der Zukunft des Kaukasus als Provinz gefährdet. Die Staaten des Kaukasus, aber auch Kasachstan, Turkmenistan und natürlich Rußland hoffen, daß die erwarteten großen Erdölreserven im Kaspischen Meer den Anrainerstaaten einen Wohlstandsschub bringen wird. Der Großteil der Exportrouten, die das Erdöl zu den westlichen Märkten bringen könnten, bergen aber erhebliche Risiken in sich. Bisher existiert eine Pipeline von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa. Pläne für eine Pipeline von Baku über Georgien durch die südliche Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan haben durch das jüngste Erdbeben in der Türkei einen erheblichen Rückschlag erlitten (Reuters, 8. September).

Aber auch die nördliche Route über den russischen Schwarzmeerhafen Noworissijk ist mit vielen Risiken befrachtet. Diese Pipelineverbindung durchläuft Tschetschenien, über das Rußland die Kontrolle verloren hat. Der russischen Erdöl-Pipeline Monopolist Transneft mußte diese Verbindung in diesem Jahr aufgrund der Lage in Tschetschenien bereits so oft unterbrechen, daß dieser sich gezwungen sah, den vergleichsweise ineffektiven Transport über die Schiene in Anspruch zu nehmen. Dieser Transportweg spart zwar Tschetschenien aus, durchquert aber Dagestan. Seit dem Ausbruch des Dagestan-Konfliktes steht auch die Zukunft dieses Transportweges in Frage.

Bliebe als Alternative der Iran. Dieser scheidet aber aufgrund der Sanktionen der USA gegen den Iran bis auf weiteres aus. Dazu kommen die immer wieder aufflammenden Konflikte in Kirgistan, Usbekistan und auch Tadschikistan, die die Stabilität der ganzen Region nachhaltig in Frage gestellt haben.

Stephen O’Sullivan, wissenschaftlicher Mitarbeiter der United Financial Group in Moskau, erklärt in dem Reuters-Bericht, daß es so aussehe, als sei Rußland als mögliche Option im großen Erdölgeschäft ausgeschieden. Auch die Position der Türkei hätte sich nach dem Erdbeben erheblich verschlechtert. Die Ereignisse scheinen O’Sullivan recht zu geben. Je länger der Konflikt im nördlichen Kaukasus dauert, desto größer wird die Gefahr, daß Moskau die Kontrolle über die gesamte, strategisch so wichtige Region verliert. "Die jüngsten Vorgänge in Dagestan könnten der Auslöser und der Katalysator für einen allgemeinen Krieg im Kaukasus werden", warnt Ruslan Auschev, Präsident der tschetschenischen Nachbarrepublik Inguschien. "Der russischen Föderation", so Auschev weiter, "droht eine wichtige Region verloren zu gehen. Und dies, nachdem es bereits so viele Tote gab und so viel Blut geflossen ist." (AFP, 9. September)

Der Präsident der Republik Nordossetien, Alexander Dzasokhow, hat Moskau gebeten, die Truppen, die in Dagestan kämpften, auf keinen Fall zurückzuziehen. Seine Republik sei gegenüber Übergriffen seitens islamischer Fundamentalisten sehr verwundbar. Der bereits zitierte Auschev fürchtet weiter, daß der Dagestan-Konflikt zu einem Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Inguschen und Ossetiern zur Folge haben könnte, die in seiner Republik in den Jahren 1992 bis 1995 Hunderte von Toten forderte. Das zentrale Problem aus russischer Sicht heißt Tschetschenien, das seit dem Krieg (1994–96) faktisch unabhängig ist und als Basis für Guerilla-Einheiten dient, die jetzt in Dagestan Krieg gegen Rußland führen. Moskau hat deshalb damit begonnen, neben Dörfern an der dagestanisch-tschetschenischen Grenze und im Landesinnern auch die Hauptstadt Grosny zu bombardieren. Dieses Bombardement könnte einen erneuten Konflikt mit der abtrünnigen Kaukasus-Republik zur Folge haben.

Kritik am Vorgehen des russischen Militärs übt denn auch Sergej Arutyunov, wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Moskauer Akademie der Wissenschaften: "Falls die russische Armee weiter der Auffassung anhängt", so erklärt Arutyunov, "daß sie den Krieg im Kaukasus mittels Artillerie gewinnen kann, wird ein islamischer Staat über kurz oder lang in dieser Region Wirklichkeit werden." Und weiter: "Tschetschenien ist für Rußland bereits verloren."

Wirtschaftlicher Abstieg fördert den Extremismus

"Das gleiche könnte mit Dagestan, Karbadino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien passieren", fügt Arutyunov hinzu.Arutyunov empfiehlt massive ökonomische Unterstützung, um die Ausbreitung des religiösen Extremismus und Nationalismus im Kaukasus zu verhindern. Diese Ausbreitung wird durch die Massenarbeitslosigkeit im Kaukasus begünstigt. Der frühere russische Premierminister Stepaschin schätzte die Arbeitslosigkeit in Dagestan laut der französischen Nachrichtenagentur AFP vom 9. September auf sage und schreibe 80 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Hier dürfte ein zentraler Grund für die Attraktivität des fundamentalistischen Islam gerade für Jugendliche liegen.


 
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