© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Wissenschaft: Der Forschungsreaktor FRM II soll im Jahr 2001 in Betrieb gehen
Das "Atom-Ei" hat ausgedient
Ines Steding

Im eingezäunten Reaktorgelände der Technischen Universität München (TUM) entsteht neben dem ersten Forschungsreaktor München (FRM I) ein neuer Forschungsreaktor, der FRM II. Im Volksmund avancierte der FRM I zum "Atom-Ei", sein silbrig glänzender, oval zulaufender Umriß legt dieses Kürzel nahe. Nach 42 Jahren Betrieb ist das Wahrzeichen des größten deutschen Uni-Geländes heute wissenschaftlich ausgereizt und technisch veraltet. Über die Nachnutzung des FRM I sei noch nicht endgültig entschieden, so FRM-Pressesprecher Volker Göbner, eine Leistungsaufrüstung wurde als unverhältnismäßig aufwendig verworfen.

Die Bauarbeiten am FRM II neigen sich derweil dem Ende zu, bis zur geplanten Inbetriebnahme Ende 2001 werden sich Gesamtkosten von etwa 810 Millionen Mark angesammelt haben. Davon sind 700 Millionen Mark seit dem ersten Spatenstich 1996 in die mit 1,80 Meter dicken Mauern versehene Betonumhüllung und sonstige Installationen geflossen. Das gewaltige Vorhaben steht unter der Ägide von Siemens als Generalunternehmer, ständig mit dem anderen großen Anlagenbauer Lurgi als Controler im Nacken, was immer wieder Effizienz- und Sparreserven freisetze, so Göbner.

Umstritten ist der Kernbrennstoff für den FRM II, der im übrigen auch beim FRM I zur Anwendung kam, nämlich hochangereichertes Uran. Letzteres figuriert allgemein im englischen Fachkürzel als HEU (highly enriched uranium), wobei dessen Einstufung als kernwaffentauglich Probleme bereitet: Es kollidieren hier, auf einen knappen Nenner gebracht, politische Interessen zur Nichtverbreitung von HEU als atomarem Spaltstoff mit den zivilen, friedlichen Nutzungsinteressen der Forschung.

Die Forschung hatte sich vor der Entdeckung der Kernspaltung wenig mit dem leicht reagierenden Schwermetall Uran befaßt. Heute interessieren sie vor allem die im Natururan nur 0,7 Prozent vorhandenen U-235-Isotope, die in einem komplizierten Verfahren auf 93 Prozent angereichert werden. Während HEU bei den Kernwaffen die unkontrollierten Kettenreaktionen auslöst, geht es im auf HEU-Basis betriebenen Forschungsreaktor vor allem um die Nutzbarmachung der im Spaltprozeß anfallenden Neutronen. Nicht umsonst heißt eine solche Anlage synonym auch "Neutronenquelle". Die "Vielfachakrobaten Neutronen" (TUM-Präsident Wolfgang A. Hermann) wirken als Sonden, "bessere Röntgenstrahlen" und kommen unter anderem in der Materialforschung (korrosionssichere Flugzeugteile) und im medizinischen Bereich (Radiopharmaka, Tumorbehandlungen) zur Anwendung.

Der Nutzungskreislauf wird streng überwacht

Im FRM II soll die um den Faktor 50 angestiegene Neutronenflußdichte bei lediglich einer Verfünffachung der Reaktorleistung auf 20 Megawatt erreicht werden. Im Ergebnis, so Göbner, wird eine Verkürzung der Meßzeiten einhergehend mit erhöhter Meßgenauigkeit zu gewärtigen sein. Für die 35 Experimentierplätze um den Reaktorkern entwickeln zur Zeit überwiegend Jungforscher aus ganz Deutschland ihre Instrumentarien. Zu den High-Tech-Dimensionen für die Wissenschaft gesellt sich ein hochentwickelter Uransilizid-Brennstoff in einer Aluminium-Matrix, der in einem einzigen, optimierten, kompakteren Brennelement zum Einsatz kommen soll, wodurch unter dem Strich Anlagen- und Betriebskosten verringert werden.

Zwar ist das auf 93 Prozent angereicherte Uransilizid per se nicht waffentauglich. Denn einer Transportabzweigung aus dem zivilen Nutzungskreislauf wird vorgebeugt: Sowohl die Euratom in Brüssel als auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien, die für die weltweite Kontrolle kerntechnischer Anlagen und des Atomwaffensperrvertrags zuständig ist, sind über jede Bewegung des Materials auf dem laufenden. Beide Institutionen sind Kontrollorgane für die seit Eisenhowers "Atoms for Peace" in völkerrechtlichen Abkommen niedergelegte friedliche Nutzung der Kernenergie.

Dennoch wird immer wieder als Ausweg aus dem Dilemma "waffentaugliches HEU" als Kernbrennstoff für Forschungszwecke niedrig angereichertes Uran, kurz LEU (lowly enriched unranium), ins Spiel gebracht. Bei LEU kommt Uran 238 auf einen Anteil von mindestens 80 Prozent. In der Tat sind die U-238-Isotope alles andere als spaltfreudig und somit nicht waffentauglich. Dafür absorbieren sie allerdings die in der Forschung so begehrten Neutronen. LEU ist deshalb als "Neutronenfresser" verschrien. Falls der FRM II nun nach Fertigstellung einfach mit LEU statt HEU betrieben würde, müßte zur Freisetzung der Neutronen die doppelte Menge an Energie aufgebracht werden, und gegenläufig dazu müßten im Ergebnis immer noch erhebliche Abstriche bei Tempo ("Fluß") und Dichte der Neutronen gemacht werden. Eine solche zur "LEU-Ruine" degradierte Großforschungsanlage wiederum würde die bayerische Staatsregierung auf keinen Fall "klag(e)los" hinnehmen, kündigte bereits mehrfach ihr Wissenschaftsminister Hans Zehetmair an.

Im Hinblick auf die gemäß Atom-Gesetz noch ausstehende dritte Teilgenehmigung für den FRM II wurde im rot-grünen Koalitionsvertrag eigens unter "Innovation und Bildung" eine erneute Diskussion über den Reaktorbrennstoff eingefordert. Die zuständige Forschungsministerin Edelgard Bulmann (SPD) bestellte daraufhin ein unter Vorsitz vom parlamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen (SPD) plural besetztes Expertengremium, das mit seiner Ende Juni in Bonn vorgelegten Studie nicht gerade für Aufbruchstimmung unter den HEU-Gegnern sorgte. Danach käme eine bauliche Umrüstung zur LEU-Effizienzsteigerung teuer; für eine neue Geometrie vom Reaktorkern des FRM II wären laut Catenhusen-Studie zwischen 300 und 600 Millionen Mark zu veranschlagen. Letztlich ließen die nachteilige Ökobilanz von LEU zu HEU, der nicht zu ignorierende Baufortschritt des FRM II und damit verbunden Zeit-, Bauplanungs- und Kostenfragen eine salomonische oder besser Zeitschienenlösung opportun erscheinen. So soll der neue Forschungsreaktor zunächst wie geplant in Betrieb gehen. Etwa bis zum Jahre 2008 soll ein neuartiger Molybdän-Treibstoff entwickelt sein, der mit mittlerer (50 Prozent) Anreicherung einen hinnehmbaren Neutroneneffizienzverlust von sieben Prozent hätte. Die dann zu erfolgende Umrüstung nennt TUM-Rektor Herrmann "einen vertretbaren Aufwand". Zufrieden war auch jene "Junge Generation in der Kernenergie" – ein Ableger der kerntechnischen Gesellschaft, Bonn –, die sich vehement gegen Technikfeindlichkeit sowie Denk- und Berufsverbote zur Wehr setzt.

Die Verkündung trägt die Unterschrift Joschka Fischers

Freilich, wenngleich auch die Catenhusen-Studie exakt der von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Regierungserklärung dargelegten Absicht entspricht, daß der FRM II nicht zur "Investitionsruine" werden dürfe, so wurde die Rechnung ohne das grün geführte Auswärtige Amt gemacht. In einem in der Berliner Zeitung lancierten Vermerk vom 3. August wendet sich das Außenamt gegen die Lieferung von HEU aus Rußland für den FRM II. Der völlig neuen Meinung der Behörde liegen unschwer erkennbar grüne Ausstiegsprinzipien zugrunde: "Gerade als ein Land, das die friedliche Nutzung der Kernenergie beenden möchte, sollte Deutschland sich auch proliferationspolitisch (d.h. verbreitungspolitisch) eher strikteren Maßgaben unterwerfen, als Zweifel an seiner Haltung aufkommen zu lassen."

Die "eher strikteren Maßgaben" würden unmittelbar in die Vertragssubstanz über von Rußland an Deutschland zu lieferndes Uran (HEU) eingreifen, worüber am 8. Juni 1998 der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel und sein russischer Amtskollege Adamov kontraktierten. Die Verkündung im Bundesanzeiger ging ohne Beanstandung vor sich und trägt bereits die Unterschrift des neuen Amtsinhabers Joschka Fischer.

Die Ursprünge für das deutsch-russische Abkommen reichen bis Mitte der achtziger Jahre zurück. Damals verabschiedete der US-amerikanische Kongreß ein Gesetz (National Nonproliferation Act), das den USA verbieten kann, waffenfähiges nukleares Material zu exportieren, um so dessen Mißbrauch zu unterbinden. Die jenseits des Atlantiks mit viel moralischem Impetus verbreitete HEU-Ächtung hatte hierzulande gute Erfolge, wo fast alle Forschungsreaktoren auf LEU umgestellt wurden; einen Eifer, den die Amerikaner längst nicht gleichermaßen an den Tag legten. Als nun das US-Bestreben, eine eigene Hochflußneutronenquelle neuesten Standards zu errichten, fehlschlug und fast zeitgleich dazu der innovative FRM II Gestalt annahm, wurde der TUM kolportiert, daß die bis dato erfolgten US-Uran-Lieferungen wegen möglichen schwunghaften Handels gestoppt werden bzw. werden könnten. Wohlweislich kursierten diese Liefervorbehalte nur in der Washingtoner Gerüchteküche, zu Papier kamen sie nie. Aber letztlich waren sie immerhin so konkret, daß ersatzweise Rußland als sichere Bezugsquelle für das benötigte nukleare Spaltmaterial erschlossen wurde.

Unbekümmert leistete sich die Supermacht einen Affront gegenüber der deutschen Gesetzestreue im Völkerrecht, darüber hinaus desavouierte sie auch das Safeguard-System der IAEO, weshalb in der Wiener Behörde, laut Handelsblatt vom 2. Februar 1996, hinter vorgehaltener Hand den USA "imperialistisches Verhalten" vorgehalten wurde. Der Würzburger Völkerrechtler Dieter Blumenwitz vermißt in Anbetracht der Kontrolldichte bei EU-Forschungseinrichtungen (Euratom, IAEO) gar jeglichen Begründungszusammenhang zwischen einem US-Lieferstopp und etwaigen Sicherheitsrisiken. Das Handelsblatt mutmaßte dann, daß die ökonomische Interessenwahrung der USA ausschlaggebend war. Erinnert sei an Clintons Ausspruch "Wer den Schlüssel zur Wissenschaft hat, hat ihn zur Wirtschaft". Dies würde hierzulande für die Erwartungen zutreffen, die in den FRM II gesteckt werden. Doch dem steht erstmal ein neues Kapitel mit rot-grünem Gezerre im Weg.


 
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