© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Pankraz,
Peter Altenberg und die gefährlichen Reden

Im Zusammenhang mit der Sloterdijk-Denunziation kürzlich in einigen linken Zeitungen wurde einige Male gesagt, daß der Mann "gefährlich" sei, und zwar deshalb, weil er "gefährliche Gedanken" hege und sogar ausspreche. Was aber ist denn ein gefährlicher Gedanke? Und was ist letztlich gefährlicher: einen Gedanken, wie immer er sei, auszusprechen – oder ihn zu verschweigen?

Gefahren sind erkannte bzw. intensiv erahnte Unheilsfaktoren. Wer von Gefahr spricht, hat das mögliche Unheil schon ziemlich genau im Visier. Ein ausgesprochener Gedanke kann also nur insofern "gefährlich" sein, als er das Unheil namhaft macht. Nur Böswillige werden ihn deshalb mit dem Unheil selbst identifizieren und verwechseln.

Freilich gibt es Ansprachen, die – bewußt oder leichtfertig – ein Unheil möglicherweise erst herbeireden, indem sie es kaschieren, verkleinern oder als Heil ausgeben. Der hinter solchen Ansprachen stehende Gedanke ist aber gar kein richtiger Gedanke, keine Sachbenennung, ist vielmehr schlechte Rhetorik, quid pro quo, bewußte Vertauschung einer Sache mit einer anderen. Im philosophischen Gespräch, das der reinen, ungestörten Erhellung von Tatbeständen gewidmet ist, kommt so etwas seit Sokrates und Platon nicht mehr vor, dafür hat deren Abrechnung mit den Sophisten gesorgt.

Im philosophischen Gespräch kann es mithin gar nicht gefährlich genug zugehen. Nur wer dort wirklich gefährlich redet, hat überhaupt die Möglichkeit, an der Abwendung möglichen Unheils mitzuwirken. "Gefahr vertreibt den Sabbat", sagt bei Heine der Rabbi von Bacharach, und genau so soll es ja auch sein. Philosophische Gespräche, die ihren Namen verdienen, sind keine Sonntagsangelegenheiten, auch wenn sie termingemäß gern auf den Sonntag gelegt werden.

Wobei man vielleicht noch eine Unterscheidung machen müßte zwischen "philosophisch-medizinischen" und "wirklich philosophischen" Gesprächen. Philosophisch-medizinische Gespräche sind Gespräche über Langzeitgefahren und regen im Grunde niemanden auf. Sie hatte der (nicht zu unterschätzende) Wiener Caféhaus-Literat der Belle Epoque Peter Altenberg im Blick, wenn er steif und fest behauptete: "Gefährlich sind nur Dinge, die du auf Dauer verträgst, die Ehe und die Mehlspeisen, Fette und Huren sind ungefährlich."

Damit war etwa gemeint: Es gibt Gefahren (für die Gesundheit, aber auch für die Gesellschaft), über die sich im Grunde alle im klaren sind und die dennoch alle als eine Art Schicksal hinnehmen, über das zu sprechen sich nicht lohnt. Wer trotzdem darüber redet, entartet zur Briefkastentante, zum Schullesebuch oder zur Rezeptanleitung. Merkwürdigerweise sind die meisten "philosophischen Gespräche", wie sie heute mit Vorliebe von evangelischen Akademien oder hochsubventionierten Atlantikbrücken veranstaltet werden, just von diesem Karat.

Scharf abzuheben sind davon die wirklich philosophischen Gespräche, von denen die "moderne Informationsgesellschaft" übrigens kaum etwas mitkriegt, weil sie oft hinter verschlossenen Türen stattfinden, abgeschirmt von der Meute der Medienvertreter und unter der Verabredung der Teilnehmer, die einzelnen Beiträge "off the record" zu behandeln und mit ihrer öffentlichen Diskussion bis zur späteren Buchherausgabe zu warten.

Auch die besagte Tagung auf Schloß Elmau, auf der Sloterdijk seine "skandalöse" Rede über Heidegger, Nietzsche, Platon und die Menschenzüchtung hielt, stand unter solcher Verabredung. Der eigentliche Skandal war der, daß die Habermasleute den Comment bewußt verletzten, weil sie den Zeitpunkt für gekommen hielten, den mißliebig gewordenen Redner S. abzuschießen, ihn vollmedial als "gefährlich" zu brandmarken.

Man lernt aus dem Vorgang, daß es in der Bundesrepublik jetzt auch nichts mehr nützt, die wirklich philosophischen, weil gefährlichen, Gespräche in abgeschirmten Nischen zu führen. Spürhunde sind unterwegs, um derlei Nischen auszuschnüffeln und sie anschließend in der sogenannten Öffentlichkeit als Skandal zu verbellen. Das politische Interesse verbindet sich dabei mit der Gier nach Unterhaltung und Sensation; die Zensoren kommen ebenso auf ihre Kosten wie die Spanner und Schlüssellochgucker.

Auf der Strecke bleibt hingegen korrektes Zukunftssignalement. Eine Gesellschaft, die in ihren Strukturen keine inoffiziellen oder auch nur halboffiziellen "gefährlichen" Gesprächskreise mehr duldet, schneidet sich ins eigene Fleisch. Sie glaubt, erfolgreich einer Gefahr zu begegnen, und zieht gerade dadurch die Gefahr erst an. Auf sie trifft Nietzsches sarkastischer Aphorismus aus "Menschliches, Allzumenschliches" (I/564) zu: "Man ist am meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist."

Gar nicht so selten ist die Angst vor einer Gefahr die größte aller Gefahren. Oder die dauernde Warnung vor Gefahren hindert einen daran, neue fruchtbringende Alternativen auszuprobieren. Irgendein Herzog bei Shakespeare (Pankraz bittet seine Leser, ihm zu helfen, wer genau und in welchem Stück) belehrt sehr weise seinen König: "Wer an der Schwelle komisch stolpert, glaubt, drinnen lauert die Gefahr." So verbaut man sich Chancen, möglicherweise sogar den Weg ins Freie.

Das war es wohl, was Peter Sloterdijk in seiner skandalisierten Elmauer Rede so zornig gegen die focierte Harmlosigkeit in unseren aktuell zugelassenen Diskursen poltern ließ: "Tatsächlich, es wäre nicht harmlos, wenn Menschen Menschen in Richtung Harmlosigkeit züchteten." Gegen diese Art von Zucht gilt es sich heute in Stellung zu bringen. Damit wir erkennen, daß die Gefahr ihren Anteil an jeglicher Ordnung hat, ja, vielleicht sogar die wahre Mutter der Sicherheit ist.


 
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