© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Deutsche Einheit I: Ein nicht mehr ganz so bundesdeutscher Nationalfeiertag
Ausgedörrte Allgemeinplätze
Elonor Techow

Der 1993 ins Leben gerufene Berliner Verein "Werkstatt Deutschland" ist, was er sich selbst nie eingestehen würde, urdeutsch. Schließlich sitzen die Altlast des West-Berliner Stobbe-Senats, Klaus Riebschläger (SPD), und der "Ministerpräsident der Einheit", Lothar de Maizière (CDU), im Vorstand, soll heißen: Es geht "überparteilich" zu. Typisch sonderweghaft deutsch hat man also immer noch nicht begriffen, daß des letzten Kaisers Wort, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, uns weiterhin zum Paria in jener westlichen Wertegemeinschaft des anything goes stempelt, der selbst der virtuelle Konsens verdächtig ist.

Da hilft es auch nicht, wenn das Credo der "Werkstatt" lautet: "Wir wollen dazu beitragen, daß die wiedervereinigte Bundesrepublik Triebkraft für den europäischen Einigungsprozeß wird." Denn, Hand aufs linksschlagende Herz: Soll Europa wirklich am deutschen überparteilichen Wesen genesen? Die Redner und ihr Publikum, die sich an diesem 3. Oktober in der Leipziger Straße im Museum für Post und Kommunikation trafen, um den neuen Nationalfeiertag zu zelebrieren, zögerten jedenfalls, diese Frage zu bejahen. Ein solches "Modell Deutschland" hätte nicht nur für die ausländischen Gäste, etwa die 70 jungen Duma-Abgeordneten, den Schluß nahegelegt: Unter diesem Vorzeichen erkenne man ein deutsch hegemonisiertes Europa, kein europäisch gezähmtes Deutschland.

Um derartige Mißverständnisse auszuräumen, hatte "Werkstatt Deutschland" vor vier Wochen Einladungen verschickt, die die britische "Wacht am Rhein", Elgars "Land of Hope and Glory", ins Zentrum des musikalischen Rahmenprogramms stellten. Doch in letzter Minute wurde der puritanische Schlachtgesang abgesagt, den der über "Eurovisionen" sprechende polnische Festredner Adam Krzeminski in der Variante "Union of Hope and Glory" gar als neue Europahymne empfahl. Immerhin ein Zeichen, daß sich die alten westdeutschen Feste radikaler Selbstvergessenheit nicht mehr unbefangen feiern lassen.

Statt dessen, außer Edvard Grieg und dem schwarzen Südstaatler Scott Joplin, vornehmlich deutsche Tonsetzer. Kleine Brechungen, wie das um einen halben Ton zu hoch gesungene Volkslied "All mein Gedanken" oder die Wahl von Franz Schuberts zivilem Militärmarsch in D-Dur, konzediert man dann gern. Zumal die Berliner Gymnasiasten, die hier Bach, Schubert und den einst als Beethovens Wiedergänger gefeierten Josef Joachim Raff (1822–1882) spielten, Erstaunliches leisteten.

Das kann man den Hauptrednern des Tages hingegen nicht bescheinigen. Der Mann, der 1989 den Eisernen Vorhang lupfte, Ungarns damaliger Außenminister Gyula Horn, plauderte weltläufig, aber ganz im Brüsseler Geist, über Deutschland als Motor der Osterweiterung. Edmund Stoiber zerrte das Publikum durch die Sahelzone ausgedörrter Allgemeinplätze und betete wieder einmal sein abstruses Credo: "Bayern ist meine Heimat. Deutschland ist mein Vaterland. Europa ist meine Zukunft." Mit anderen Worten: Bayern und Deutschland haben keine Zukunft. Zumal, wie Stoiber ausführte, in zehn Jahren die europäische Währung, die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik Realität sein werde. Der Streit darüber, ob Berlin eine richtige Weltstadt, oder wenigstens, wie von Krzeminski und Horn propagiert, eine "mitteleuropäische Metropole" werde, sei akademisch: die wahre europäische Metropole des 21. Jahrhunderts heißt nach Stoiber nun einmal Brüssel.

Die regionalen und nationalen Restidentitäten haben in diesen Eurovisionen des bayerischen Ministerpräsidenten allein die Funktion, permanent ideelle Integration zu garantieren, solange eine europäische Identität fehlt. Kein Wort verlor Stoiber darüber, daß seine schöne neue Euro-Welt infolge Masseneinwanderung bald zur Disposition stehen könnte.

Der zwischen zwei Wahlkampfauftritten hereingeschneite Eberhard Diepgen bewies da unabsichtlich mehr Problembewußtsein: Die Zuwanderung aus Osteuropa beschere uns "Internationalität". Sollte das womöglich heißen: Wer nicht aus Osteuropa stammt, der mag bleiben, wo der Pfeffer wächst? Nur die Gutwilligsten werden Diepgen diese dialektische Chuzpe zutrauen.

Nur die Gutwilligsten werden auch aus Stoibers Rede andere Akzente herausgehört haben. Seine Philippika etwa gegen die Westdeutschen, die 1989 bereits rundum unfähig waren, die Einheit ins Werk zu setzen. Sein offenbar emotionales Urvertrauen in die Nation, auch wenn ihm seine europäisch disziplinierte Vernunft verbietet, daraus eine neue politische Wertordnung abzuleiten. Aber immerhin: Insoweit war dieser Redner seines ebenso gespaltenen Publikums würdig.

Denn Optimisten, die den Bach spielenden Gymnasiasten im schönen, von keinem britischen Architekten verschandelten wilhelmischen Ambiente des Postmuseums lauschten, die Elgars "Land of Hope and Glory" nicht vermißten, und schon gar nicht die sonst üblichen Schuld- und Schamergüsse, die dürften sich beim anschließenden Stehempfang gesagt haben: Vielleicht holt das Bewußtsein dieses hier sich zaghaft artikulierende emotionale Sein eines Tages doch ein.


 
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