© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Kolumne
Wirklichkeit
von Klaus Motschmann

Anläßlich des 10. Jahrestages des Mauerfalls in Berlin ist in diesen Wochen sehr viel – und vielfach mit einem Unterton ideologisch motivierter Genugtuung – von der "Mauer in den Köpfen" die Rede und davon, daß die "innere Einheit" noch lange nicht erreicht sei. Gemessen an der 99,9 Prozent-Mentalität aller Einheitsideologen ist das auch richtig.

Die Tatsache, daß dieser Maßstab ganz offensichtlich noch immer bzw. schon wieder maßgebend für die Be- und Verurteilung unserer politischen Wirklichkeit ist, deutet auf die Fortexistenz einer weiteren Mauer hin, von der bemerkenswerterweise kaum die Rede ist: auf die "Mauer vor den Köpfen" vieler Ideologen und ihrer "willigen Vollstrecker". Sie hat längst das vielzitierte "Brett vor dem Kopf" ersetzt, bei dem immerhin die Hoffnung bestand, daß man es durch "starkes langsames Bohren" (Max Weber) allmählich entfernen kann. Diese Hoffnung besteht auf absehbare Zeit nicht mehr, so daß die Wirklichkeit auch weiterhin entweder überhaupt nicht oder nur in einem von ideologischen Zweckmäßigkeiten diktierten Segment möglich ist.

Aus der notorischen Unfähigkeit der Ideologen, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen, erklären sich die Unfähigkeit der Einschätzung wesentlicher Erscheinungen unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens. Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: die jetzt als deutsches Sonderproblem ausgemachte "Mauer in den Köpfen" läßt sich in vielen Staaten nachweisen. Sie existiert aus sehr unterschiedlichen ethnischen, religiösen, sozialen und allgemein-traditionellen Gründen in Großbritannien zwischen Engländern, Schotten und Walisern, in Frankreich zwischen Bretonen und Korsen; in Belgien zwischen Flamen und Wallonen, in Italien zwischen Lombarden und Sizilianern, in Spanien zwischen Katalanen und Basken. Sie existiert aber auch nach 70 bzw. 40 Jahren sozialistischer Friedenspolitik; in Rußland, den früheren Staaten der Sowjetunion und des Ostblocks, eingeschlossen das sozialistische Musterländle Jugoslawien.

Mit dieser Feststellung wird keinem politischen Fatalismus das Wort geredet. Wohl aber einer "Anerkennung der Realitäten", wozu unsere intellektuelle und politische Linke hinsichtlich der Mauer durch unser Volk doch so schnell bereit war. Trotzdem ist diese Mauer gefallen! Auch die vermeintliche "Mauer in den Köpfen" wird allmählich abgebaut werden, wenn wir die Realität einer Vielfalt historisch gewachsener Lebens- und Gestaltungsformen anerkennen und sie nicht länger in ideologischer Einfalt in Beziehung zu einem der unmenschlichsten Symbole sozialistischer Daseinsgestaltung setzen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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