© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Deutsche Einheit: Hans-Wilhelm Ebeling über die Wiedervereinigung und das Ost-West-Gerede
"Was wir brauchen, ist Solidarität"
Karl-Peter Gerigk

Herr Ebeling, wie war die Situation im Oktober 1989 in Leipzig, bei den Menschen auf der Straße und in den Kirchen?

Ebeling: Die Kirche war immer Anlaufstelle für viele Menschen. Ich hatte in Leipzig zum Beispiel auch Ausreisekandidaten zu betreuen. Die Menschen kamen zu uns, weil sie versuchten, mit Hilfe der Kirche ihre Interessen gegenüber dem Staat durchzusetzen. Daß die Kirche den Menschen in der damaligen DDR helfen mußte, war klar. Es gab jedoch verschiedene Vorstellungen über das Wie. Ich gehöre zu jenen, die denken, daß man die Kirche nicht in eine politische Instituion umwandeln sollte.

Muß sie nicht politischen Einfluß im Interesse der Menschen, der Gemeinden nehmen?

Ebeling: Es ist die Frage, wie dies geschehen soll. Viele Menschen kamen damals zur Kirche und gehörten nicht zur Gemeinde oder überhaupt einer Kirche oder Konfession an. Sie waren zum Teil Atheisten. Sie haben einfach versucht, mit Hilfe der Kirche das Land gen Westen zu verlassen. Dennoch frage ich mich, wie weit ein Pfarrer gehen darf, inwieweit er seine inneren politischen Überzeugungen äußern darf. In der damaligen Situation waren wir uns jedoch alle einig, daß dieses System, in dem wir in der DDR lebten, beseitigt werden mußte.

Die Menschen, die zu Ihnen kamen, wollten also nicht nur weg, sie wollten das System ändern?

Ebeling: Die einen, die zu uns kamen und ausreisen wollten, waren jene, die resigniert hatten. Sie waren der Überzeugung, daß das System, in dem wir lebten, nicht reformierbar war. Andere dachten, das System ist reformierbar. Ich selber gehörte zu jenen, die keine DDR mehr wollten. Ich wollte keine andere DDR, keine reformierte DDR und auch keinen reformierten Sozialismus. Ich wollte die deutsche Einheit. Ich wollte die soziale Marktwirtschaft, weil ich der Auffassung war und bin, daß dies das einzige funktionierende System ist, das den Menschen ein würdiges Dasein ermöglicht.

Wollten die Menschen denn vorrangig die Segnungen der sozialen Marktwirtschaft?

Ebeling: Das Einigungsbestreben der Menschen hatte nicht nur wirtschaftliche Gründe. Sicherlich ist es jedoch merkbar, wenn man für alles laufen muß, um es zu besorgen. Von Baumaterial bis zu Stecknadeln. Dieser dauernde Kampf im Alltäglichen um Kleinigkeiten spielte auch eine Rolle. Aber eine größere Rolle spielte der Mangel an Freiheit, die Menschen leben wie in einem Druckkessel. Sie konnten nicht raus, sie konnten nicht sagen, was sie wollten, sie konnten nicht tun, was sie wollten, und standen im Alltag unter ständiger Pression und Observation. Irgendwann platzt einem der Kragen, und man denkt: Es ist Schluß, ich muß ausbrechen.

Hatten Sie nicht Angst, daß jemand zu Ihnen kam und meinte, er wollte ausreisen, und war in Wirklichkeit Stasi-Spitzel?

Ebeling: Man hat sich in vierzig Jahren daran gewöhnt und weiß einzuschätzen, wer da kommt. Sie bekommen ein Gefühl dafür, wer von sich aus kommt und wer geschickt ist. Ich habe solche Gespräche nicht geführt, wenn der Telefonstecker drin war. Wir standen immer unter dem Druck, daß man abgehört wird, daß die Gespräche in den Lokalen verfolgt und bespitzelt werden. Wir haben uns zu Feiern und Festen nicht in den Lokalen getroffen, sondern blieben zu Hause. Ich mußte auch bei meinen Predigten vorsichtig sein, da immer auch Stasi-Spitzel im Gottesdienst waren. Das ersehe ich jetzt auch aus meiner dicken Akte von damals. Wenn Sie in einer Diktatur gelebt haben, dann haben Sie eine Sehnsucht danach, zu lesen, was sie möchten, zu sprechen, wie sie denken und zu denken, wie sie wollen. Auch sich das Reisesziel frei aussuchen zu können, spielt eine Rolle. Man möchte an Versammlungen teilnehmen und sich Kreisen anschließen, wo Sie ein geistiges Zuhause finden. Ich war nicht im Fußballverein, nicht im Anglerverein, und auch der Briefmarkenverein war überwacht. Dann kamen die Leute natürlich zur Kirche. Wir boten Gesprächskreise und Bibelstunden an. Auch wenn es Pfarrer gab, die für die Staatssicherheit gearbeitet haben, gab die Kirche den Menschen einen geborgenen Raum.

Als die Menschen dann auf die Straße gingen – hatten Sie nicht die Furcht vor einer Eskalation, vor der Gewalt durch den Staatssicherheitsdienst, vor Polizei und Militär?

Ebeling: Der Bischof hatte in Leipzig die Anweisung ausgegeben, die Leute zu bitten, am 9. Oktober nicht auf die Straße zu gehen und nicht zu demonstrieren. Ich habe den 17. Juni 1953 hautnah erlebt. Wir waren damals in Cottbus tätig. Wir sind mit allen Arbeitern und Kollegen am 17. Juni auf den Altmarkt marschiert und wurden dort von der Roten Armee empfangen. Es wurde scharf geschossen. Einer unserer Kollegen wurde erschossen. Das sind Erfahrungen, die man nicht vergißt. Ich war der Überzeugung, daß dieses Regime nicht durch eine Revolution von unten beseitigt werden konnte.

Hat nicht das Volk auf der Straße das SED-Regime in die Knie gezwungen?

Ebeling: Das ist eine offene Frage. Es gab viele zusammenwirkende Faktoren. Aber ausschlaggebend war sicherlich die desolate wirtschaftliche Lage. Die DDR war ökonomisch am Ende.

Haben die Menschen heute in der Bundesrepublik, das wonach sie sich gesehnt haben, Wohlstand und Freiheit?

Ebeling: Ich war einer der wenigen, die gesagt haben, deutsche Einheit sofort – ohne Wenn und Aber. Ich habe in meinem Ministerium gesagt, daß wir Ende 1990 gesamtdeutsche Wahlen haben. Da habe ich mich wesentlich unterschieden von de Maiziere und anderen. Die Einheit ist für mich ein Geschenk. Ich für meinen Teil bin dankbar, daß ich in dem vereinten Deutschland leben kann. Ich erinnere mich an eine Großdemonstration in Hof mit Waigel und Streibl. Damals war mir klar, und das habe ich auch gesagt, die deutsche Einheit ist nicht zum Nulltarif zu bekommen. Ich habe dem Kanzler gesagt, wie desolat die Wirtschaft in der DDR ist und daß der Aufbau Jahre in Anspruch nehmen wird. Wir können es schaffen, aber es wird schwer werden. Wir dürfen das Positive der Einheit – die Freiheit – nicht vergessen oder verdrängen.

War denn die Bemerkung des damaligen Kanzlers Kohls, es werde in fünf Jahren blühende Landschaften geben, eine Fehleinschätzung oder Taktik, um an der Macht zu bleiben?

Ebeling: Der Kanzler schien der festen Überzeugung, daß dies alles schnell über die Bühne geht. Er verwies auf die Kapitalkraft der Bundesrepublik und dachte, daß dies keine größeren Probleme bereiten wird. Ich habe ihm damals widersprochen. Aber man tut ihm Unrecht, wenn man Wahltaktik unterstellt. Er hat nun einmal den Mantel der Geschichte gegriffen. Wäre ein Lafontaine Kanzler gewesen, hätte es die Einheit nicht gegeben. Ich wundere mich noch heute über den Mangel an Wissen der westdeutschen Politiker über die damalige DDR. Man hat den Kommunisten zuviel geglaubt und das für bare Münze genommen, was offizielle Information war und was Ämter und Ministerien übermittelten.

Welche Rolle haben die Geheimdienste bei der Einheit gespielt?

Ebeling: Alle Geheimdienste haben gearbeitet und versucht, sich Informationen zu beschaffen. Schlimmer als die Beschaffung ist jedoch, daß man die Akten heute nicht wieder herausgeben will.

Was denken Sie heute über die Diskussionen um Wessis und Ossis?

Ebeling: 1945 hat ganz Deutschland einen Krieg verloren – nicht die Bundesrepublik und auch nicht die DDR. Wir hatten das Pech einer kommunistischen Diktatur. Die Besatzungsmächte im Westen hingegen, England, Frankreich und die USA, waren ausgereifte und funktionierende Demokratien. Warum sollten und sollen die Deutschen im Osten alleine die Last des verlorenen Krieges tragen? Was wir brauchen, ist die Solidarität innerhalb des Volkes.

Sie denken an die Schicksalsgemeinschaft?

Ebeling: Ich höre oft, hätten wir doch die Mauer wieder. Das verstehe ich kaum. Ich frage mich, ob den Leuten nicht die Vorstellung davon fehlt, was Deutschland ist. Der Franzose ist stolz auf Frankreich, und der Pole würde sich hüten, einen Keil in sein Volk hineinzutreiben. Verloren haben wir alle den Krieg, nicht nur die jenseits der Elbe. Wenn wir uns nicht auf dieser Ebene verstehen, dann wird es mit der inneren Einheit schwer.

Wie lange braucht die innere Einheit noch?

Ebeling: Die Zeit heilt die Wunden, und es bedarf sicher noch einige Zeit. Es wurden nach 1989 viele Fehler gemacht. Wenn man an die Goldrauschstimmung derjenigen denkt, die im Osten nur abkassieren wollten und auch Unternehmen aufkauften, um sie dann plattzumachen. Viele Menschen wurden in die Arbeitslosigkeit entlassen. Dies sind Wunden, die heilen nicht von heute auf morgen.

Haben die Parteien auch Fehler gemacht?

Ebeling: Was ich nicht begreife, ist, daß die PDS so von der SPD hofiert wird. Es scheint, als hätten die Sozialdemokraten nichts aus dem Vereinigungsparteitag mit der KPD 1945 gelernt. Sie sind damals einfach geschluckt worden. Es ist erschreckend, daß sie sich wieder auf diesen Weg begeben. Aber auch die CDU hat große Fehler gemacht. Es war falsch, die Ost-CDU einfach zu integrieren. Hier sind große Fehler gemacht worden, von den Regierungspolitikern wie von den Parteioberen.

 

Hans-Wilhelm Ebeling ist Diplom-Theologe und Pfarrer. Von April bis Oktober 1990 war er Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im letzten Kabinett der DDR. Geboren am 15. Januar 1934 in Parchim, absolvierte er nach dem Abitur 1954 eine Ausbildung zum Hilfsschmelzer in Eisenhüttenstadt. Anschließend machte er eine Ausbildung zum Schlosser und studierte Maschinenbau an der Technischen Universität Dresden und dann Theologie in Leipzig. Von 1976 bis 1990 war er Pfarrer der Thomaskirche in Leipzig. Im Oktober 1989 gründete er die Christlich Soziale Partei Deutschlands (CSPD) und im Januar 1990 die Deutsche Soziale Union (DSU), deren Vorsitzender war. Heute predigt er in der Apostel Paulus Kirche in Berlin-Schöneberg.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen