© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Felix Blindow: Carl Schmitts Reichsordnung. Strategie für einen europäischen Großraum
Vergebliches Gestaltungsdenken
Peter Boßdorf

Die Relevanz Carl Schmitts ent-scheidet sich nicht an der Frage, welchen Einfluß er auf das Geschehen seiner Zeit zu nehmen vermochte – dies wäre ein allzu tragischer Rückschluß aus dem "konkreten Ordnungsdenken", das wohl weniger dem Fatalismus juristische Gestalt geben als der Rechtswissenschaft die Beendigung einer lange schwelenden Sinnkrise offerieren wollte. Andererseits ist seinen letztlich "gescheiterten" Versuchen einer Parteinahme – zunächst für eine autoritäre Rettung der Weimarer Republik, dann für den Nationalsozialismus – nicht gerecht zu werden, wenn man sie als bloß opportunistisch und damit zu einer Charakterfrage erklärt. Zu beiden Anlässen verhielt er sich auch in einer Konsequenz seines Denkens, dem es allerdings nicht gelang, durch terminologische Anverwandlungen den Zeitläuften seine eigenen Bedeutungen unterzuschieben.

Carl Schmitt betrieb demnach die Diagnose und Prognose von Zeitgeschehen auch und gerade, um diesem eine Richtung zu geben: Die Hilflosigkeit derartiger Bemühungen unverhofft nahegebracht zu haben, ist vielleicht der stärkste Eindruck, den die Arbeit von Felix Blindow hinterläßt. Diese Eindringlichkeit ist ihm möglich, weil er eine emotionsarme wissenschaftliche Herangehensweise auch dort pflegt, wo es mit "totalem Staat", "Reich" und "Großraum" immerhin um durchaus sensible Begriffe geht. Frei von apologetischen Untertönen erspart er sich und dem Leser, die Berechtigung des speziellen Themas durch eine übergeordnete Bewertung seines zeitgeschichtlichen Zusammenhanges in Frage zu stellen. Auch die Überheblichkeit des diskursiv mitgestaltenden Intellektuellen im einundfünfzigsten Jahr der Erfolgsrepublik beschränkt sich auf den wenig überzeugenden Neologismus des "Möchtegern-Klein-Demiurgen", der Schmitt gewesen sein soll. Die Forschung kennt da weitaus größere Zumutungen.

Für eine Arbeit über Carl Schmitt ist schon dieser so selbstverständlich wirkende Ansatz immer noch ausreichend, um wissenschaftliches Neuland zu betreten. Felix Blindow wartet daher weniger mit Überraschungen auf, er führt vielmehr das aus, was die betrachteten Schriften Schmitts in ihrem ideengeschichtlichen und zeithistorischen Kontext vermuten lassen. Hätte er sich noch mehr auf den Autor selbst konzentriert und das sicher spannende, aber schwer einzugrenzende Umfeld ein wenig zurückgestellt, wäre ihm vielleicht auch dort Plausibilität möglich gewesen, wo es nun bei Andeutungen bleiben mußte.

Carl Schmitt, so das Ergebnis eines ersten Hauptteils, der die Jahre vor seiner "Kaltstellung" im Dritten Reich untersucht, stand dem Reichsbegriff als literarischem Phänomen im katholischen und "konservativ-revolutionären" Milieu der Weimarer Republik nicht sonderlich aufgeschlossen gegenüber. Er witterte, wie er in einem Brief an Wilhelm Stapel formulierte, einen "gefährlichen staatsschwächenden Gebrauch des Wortes", dagegen galt es ihm zu betonen, daß das Reich "einen selbstverständlichen Anspruch auf Staat und volle Staatlichkeit habe". Bereits seine Kritik an der politischen Romantik ließ kaum Berührungspunkte zu einer Reichstheologie entstehen, so sehr diese auch katholische Brücken in den Nationalsozialismus anbieten mochte – eher betulich wirkt es da, wenn Felix Blindow ergänzend die "ereignisgeschichtliche" Beweisführung versucht, daß Carl Schmitt sich durch das vorzeitige Verlassen einer Tagung in Maria Laach vermutlich habe distanzieren wollen. Wenig Mitleid zeigt er dabei mit Andreas Koenen, den er nicht allein in seiner schlampigen Zitationstechnik, sondern vor allem in der zentralen These vorführt, Schmitt sei ein "Reichsideologe" gewesen. Davon kann, so Blindow, keine Rede sein, und darüber hinaus sei Schmitt auch außerordentlich reserviert gegenüber ähnlich inspirierten Vorstellungen eines Ständestaates gewesen. Hier, wie zu zahlreichen anderen Gelegenheiten, schließt er sich übrigens ausdrücklich Günter Maschke an, dessen Wegweisungen durch das Werk Schmitts ein untergründiger roter Faden dieser Arbeit zu sein scheinen. Fast nebenbei führt Blindow in die zeitgenössische Diskussion um den "totalen Staat" ein, mit dem zunächst ganz andere Bedeutungen verbunden wurden als das heutige, durch die Schule der Extremismusforschung gegangene Räsonnieren vermuten lassen könnte: Ihn charakterisierte Carl Schmitt als die Aufhebung der Grenze zwischen Politischem und Gesellschaftlichem und damit als eine Konsequenz des Liberalismus. Total sei dieser Staat "in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie". Diesen "totalen Staat aus Schwäche" wußte er zwar mit einem ebensolchen "aus Stärke" als "einzig echtem Staat" zu kontrastieren, doch suggeriert Blindow, hierin bereits eine Argumentationsstrategie zu vermuten, die sich nicht schon in der Wahl der Terminologie ausgrenzen wollte. Der Staat sollte sich über die Gesellschaft erheben und nicht durch eine Bewegung (aus eben dieser Gesellschaft) in Dienst genommen werden. Dem instrumentellen Staatsverständnis der Nationalsozialisten habe er das Credo Mussolinis vorgezogen, das dieser persönlich ihm gegenüber in die anekdotisch überlieferte Aufforderung habe münden lassen, den Staat doch gefälligst vor der Partei zu retten.

Als Schmitt einige Jahre später mit den Begriffen "Reich" und "Großraum" dem Völkerrecht eine neue Gestalt zu geben versucht, ist seine Entfernung zum Geschehen nicht allein deshalb gewachsen, weil sich das Hauptbetätigungsfeld der Nationalsozialisten auf die internationale Bühne verlagert hatte. Seinen zeitgenössischen Kontrahenten fällt es nicht mehr schwer, das Trennende zu identifizieren, ohne daß es ihnen durch ihre größere Nähe zum Regime möglich gewesen wäre, prägender zu wirken. Blindow arbeitet jene beargwöhnte Substanzlosigkeit des Großraumbegriffs heraus, die ihn von einem Interventionsverbot für raumfremde Mächte her definiere, obwohl dieses doch erst eine Konsequenz sein könne. Anders als die nationalsozialistischen Zeitgenossen es wahrhaben wollten, wäre es sehr wohl möglich gewesen, diese Unbestimmtheit mit Kategorien des Lebensraums zu befrachten: Ein Widerspruch hätte nicht zur Theorie, allenfalls zu den Intentionen Schmitts bestanden. Es bleibt also noch ein Rest an Raum für verantwortungsethische Anklagen, doch bescheinigt Blindow "Schmitts Großraumordnung", daß diese "keine Ähnlichkeit" mit "Hitlers ‘Großgermanischem Reich’" gehabt habe. Wäre der Autor hier in den Details der Argumentation nicht etwa ein Jahrzehnt hinter den aktuellen Stand der Hitler-Forschung zurückgefallen, hätte die Beweisführung noch glaubwürdiger wirken können.

Das "Reich" will Carl Schmitt in diesen Zusammenhängen ebenfalls nicht zu einem romantischen Begriff werden lassen, es ist die vorläufige Metapher, die auch jene Attribute aufnimmt, die dem an sein Ende gelangten Staat nicht mehr zukommen. Für einen kurzen Augenblick scheint es, als hätte Carl Schmitt mit einer zur Theorie geweiteten europäischen Monroe-Doktrin eine Perspektive beschrieben, die zum Greifen nahe ist und der sich sogar der Machthaber, ohne daß ihm solches hätte nahegelegt werden können, bedient. Der weitere Verlauf der Ereignisse bot einem "konkreten Ordnungsdenken" nicht einmal mehr die Möglichkeit des intellektuellen Nachvollzugs, geschweige denn eine Empfehlung zur Gestaltung. Die Entkoppelung des Denkens von der Lage des Augenblicks nahm auch bei Schmitt antikisierende Züge an – eine Vorwegnahme jener Geistesstimmung, die nach Kriegsende prägend für Deutschland wurde. Felix Blindow ist somit redlich genug, "Carl Schmitts Reichsordnung" implizit ein Verfallsdatum irgendwann nach dem 22. Juni 1941, aber deutlich vor dem 8. Mai 1945 zu konzedieren. Versuche, sich mit ihren Begriffen und ihrem methodischen Hintergrund der Gegenwart anzunehmen, sind damit keineswegs ausgeschlossen: Felix Blindow führt in seinem Schlußwort sogar reichlich ungeschützt vor, daß man hier recht weit gehen kann.

 

Felix Blindow: Carl Schmitts Reichsordnung. Strategie für einen europäischen Großraum. Akademie Verlag, Berlin 1999, 209 Seiten, 98 Mark


 
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