© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


Pankraz,
G. de Maupassant und die Sorgen des Nachwuchses

Von Maupassant gibt es eine Erzählung, in der eine reiche kinderlose Dame der Oberklasse sich in ein überbevölkertes Elendsviertel kutschieren läßt, um einer der dortigen Proletarierfrauen eines ihrer vielen Kinder abzukaufen. Bei der ersten Familie stößt sie auf empörte Ablehnung, doch nebenan bekommt sie ihr Baby. Fortan wird die Frau, die ihr Kind weggegeben hat, von der anderen, standhaft gebliebenen immer wieder beschimpft und verhöhnt ob ihrer "Unmenschlichkeit". Sie, die Standhafte, ist die eindeutige Siegerin. Schnitt und Ende des ersten Kapitels.

Im zweiten sind zwanzig Jahre vergangen, ein edler, feiner junger Herr zeigt sich im Elendsviertel und teilt milde Gaben aus. Es ist der Abgekaufte von ehedem. Er gerät auch an jene Familie, die sich damals weigerte, ihr Kind wegzugeben, und nun ist die Standhafte voll bedeppert. Der Sohn, den sie damals so stürmisch für sich behalten hat, verflucht sie, denn aus ihm ist nichts geworden, er hat nicht studieren können, nichts verdienen können, steckt bis obenhin im Dreck. Und daran, grölt er, sei allein die "liebende Mutter" schuld.

Die Story läßt sich leicht ins gentechnische Zeitalter von morgen oder übermorgen übertragen. Zwei Freundinnen kriegen ein Kind, die eine geht zum Gynäkologen, und der durchleuchtet sie und macht einige Vorschläge, wie man den Keimling durch Eingriffe mit einigen schönen Anlagen ausstatten könne. Hier gilt es ein Krebs-Gen herauszuschneiden, dort durch Gen-Kombination eine erfreuliche Begabung für Mathematik und streng logisches Denken zu befördern. Gesagt, getan. Der Sprößling gerät prächtig.

Die andere Freundin hat Moralphilosophie studiert und ist davon überzeugt, daß ihr Kind "ein Menschenrecht auf Zufall" haben müsse. Sie verweigert sich der vorgeburtlichen Diagnostik, obwohl ihr manches Unheil schwant, und das Unheil tritt dann auch tatsächlich ein. Das Kind ist benachteiligt in vielerlei Hinsicht, fällt durch sämtliche Prüfungen, keine Versicherung will ihm eine Police verkaufen, und als es erfährt, weshalb das so ist, daß ihm einst, als es noch eine befruchtete Eizelle war, jegliche genetische Behandlung versagt wurde, verflucht es seine Mutter, genau wie der unverkaufte Proletariersohn bei Maupassant die seine.

Bei den aktuellen bioethischen Diskussionen, so will es Pankraz scheinen, waltet ein ziemlich anstößiger Egoismus der Elterngeneration. Immer wieder werden die moralischen Skrupel der Eltern angesichts eventuell möglich werdender genetischer Optimierungen der Nachkommenschaft durchgehechelt, aber von der Nachkommenschaft selbst spricht kaum jemand. Dabei ist es doch vollkommen klar, daß diese Nachkommenschaft ein vehementes Votum zugunsten von Optimierungsstrategien abgeben würde. Wer möchte denn schon mit einem Buckel zur Welt kommen, wenn der Gynäkologe solche Kalamität durch simplen Eingriff verhindern kann!

Es ist auch viel Anmaßung in dem moralphilosophischen Geschwafel der Elterngeneration. Sie tut so, als habe sie es demnächst in der Gewalt, nicht nur über die Körper, sondern auch über die Seelen des Nachwuchses voll disponieren können. Davon kann doch überhaupt keine Rede sein.

Ganz abgesehen davon, daß es eine irre Utopie und Illusion ist, das menschliche Genom je voll ausrechnen und in all seinen phänotypischen Folgen vorhersagen zu wollen, übersieht man geflissentlich, daß zum Menschsein, zur vielbeschworenen Humanitas, ja die Fähigkeit zur Selbstreflexion gehört, zum Abstandnehmen von allen unseren Eigenschaften, seien sie nun physisch oder psychisch, zufällig oder angezüchtet. Dieses Abstandnehmen, diese epoché, wie die Alten sagten, kann kein Genetiker wegnehmen, es sei denn, er nähme uns unser Menschsein weg, operierte uns das Großhirn inklusive sämtlicher Selbstvergewisserungs- und Entscheidungszentren heraus.

Schönheit, Gesundheit, Begabung zu diesem und jenem, Sanftheit oder Zornmütigkeit – all dies bleibt zweitrangig im Vergleich mit der epoché. Sie selbst ist natürlich nicht ungefährdet, kann verdämmern im dunklen Reich der Alzheimerei, kann untergehen im grauen Meer des Wahnsinns. Aber solange sie lebendig ist, sind wir als Menschen lebendig und den genetischen Vorsorgen der Elterngeneration nicht wehrlos ausgeliefert. Ihre Mitgifte sind für uns nichts anderes als die Mitgifte der übrigen Natur, die vor uns da war. Wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, so wie wir uns mit den kulturellen Praktiken auseinandersetzen müssen, die vor uns da waren und in die wir hineinwachsen.

Wenn es die Elterngeneration wirklich gut mit dem Nachwuchs meint, dann sollte sie sich weniger um ihre eigenen Keimbahnen und mehr um die Keimbahnen des Nachwuchses kümmern. Es ist geradezu ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den Nachwuchs mit optimaler Gesundheit und Lebenskraft auszustatten, so gut sie es immer vermag. Über das Übrige läßt sich vielleicht streiten, doch braucht man nicht zu befürchten, daß man dem Nachwuchs Eigenschaften anzüchtet, deren Ansehen allzu sehr aus der Gegenwart abgeleitet ist.

Auch braucht man nicht zu befürchten, daß man durch genetische Eingriffe definitive Zustände schafft, an denen sich nichts mehr ändern läßt. Dazu ist die Natur, auch die Menschennatur, viel zu plastisch, hält stets neue Überaschungen und neue Wege bereit. Das Erbe der Vergangenheit, ob naturell oder kulturell, steht immer voll zur Disposition des Nachwuchses.

Tröstlicherweise dominiert im unaufgeregt selbstreflexiven Menschen der Respekt vor der Tradition und die Dankbarkeit ihr gegenüber. Doch wie Maupassants Proletariermutter, die es so gut meinte, müssen alle Eltern damit rechnen, daß sie für ihre Taten einst verflucht statt gelobt werden. Dieses Risiko ist durch die genetische Revolution nicht geringer, es ist aber auch nicht größer geworden.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen