© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Bäuerliche Landwirtschaft: Agrarpolitik darf nicht nur eine Frage der Ökonomie sein
Wirtschaftsfanatiker sind am Ruder
Baldur Springmann

Mit ihren lächerlichen paar Prozenten Anteil am Bruttosozialprodukt ist die Landwirtschaft für die meisten der etablierten Politiker infolge der Begrenzung ihres Blickfeldes durch ökonomische Scheuklappen eine quantité negligible. Dementsprechend wurde mit der angeblichen "Förderung des bäuerlichen Familienbetriebes" jahrzehntelang nichts als leeres Stroh gedroschen. Heute wird mit der "Strukturverbesserung zugunsten leistungsfähiger Betriebe" das Bauerntum endgültig entsorgt.

Im Gegensatz zu dieser tolerierten oder gar erwünschten Bedeutungslosigkeit des bäuerlichen Sektors unserer Gesamtgesellschaft vertrete ich die Auffassung, daß die Frage "Bäuerliche Landwirtschaft oder Agrarindustrie?" nach wie vor eine erhebliche Bedeutung hat. Es ist sozusagen die Spitze des Eisberges einer aus jedem vernünftigen Maß ausufernden und mit der einseitigen Ausrichtung auf Gewinnmaximierung fehlgesteuerten Industrialisierung – ein Eisberg, auf den die immer noch am Ruder befindlichen "Ökonomen" unser aller Lebensschiff blindlings zusteuern. Es geht um die Frage, ob und wie es gelingen kann, diesen Irrsinnskurs in Richtung einer an die ökologischen Maße unserer Mutter Erde angepaßten, also ganz neuen Art von Industrialisierung zu korrigieren.

Um die erfolgversprechendste Art solcher Korrektur zu ermitteln, ist es sicher sinnvoll, mit jener Spitze des Eisberges zu beginnen, die auch in aller Zukunft die Grundlage unserer biologischen Existenz bleiben wird. Manches von den dabei gewonnenen Erfahrungen wird sich dann auch auf die anderen Sektoren unserer Volkswirtschaft übertragen lassen. Und weil ich dies für existentiell bedeutungsvoll halte, habe ich mich nicht mit der Aufstellung dieser Forderung begnügt, sondern zehn thesenartige praktische Vorschläge zur bäuerlichen Landwirtschaft entwickelt, welche ich bei passender Gelegenheit immer wieder hartnäckig vortrage:

- Urproduktion ist das bedeutsamste Merkmal bäuerlicher Landwirtschaft. Bäuerliches Tun ist das Steuern und Steigern von Naturprozessen innerhalb ihrer ökologischen Zusammenhänge, ohne sie in ihrem Charakter zu verändern. Unabhängig von der Hofgröße kann ein Ökobauer dieses Ziel anstreben. Es entsteht dabei aus der unbegrenzt zur Verfügung stehenden Lichtenergie und gesteigerter Bodenfruchtbarkeit vermehrte Lebensenergie für Mensch und Tier. Außer mechanischer Energie, welche noch vor einem Jahrhundert ebenfalls diesem Urprozeß entstammte, ist auch heute noch auf einem Ökohof keinerlei Input erforderlich.

- Industrielle Montage ist das bedeutsamste Merkmal der heute "konventionell" genannten Landwirtschaft. Diese agrarindustrielle Tätigkeit benutzt Pflanzen und Tiere als Herstellungsapparate von Produkten aus überwiegend zugekauften Rohstoffen. Ähnlich wie bei der Konsumgüterindustrie erscheint bei dieser Agrarindustrie nur etwa die Hälfte des Inputs wieder als Output. Alles andere wird Abfall, der wie jeder industrielle Abfall lebensfeindlich ist. Ökologische Zusammenhänge werden dabei gestört, manchmal zerstört.

Der "integrierte Landbau" ist eine Roßtäuscherei

- In der kapitalistischen "Marktwirtschaft" ist Landwirtschaft, in welcher Form auch immer, nicht konkurrenzfähig. Einer der Gründe für die prinzipielle Unmöglichkeit, als landwirtschaftlicher Unternehmer einen etwa gleichen Gewinn zu erzielen wie in der Konsumgüterindustrie, liegt in der begrenzten Umsatzgeschwindigkeit. Wenn ein Unternehmen nicht mindestens zehnmal im Jahr sein Kapital umsetzt, geht es pleite. Der Landwirt kann sein "Kapital" nur in etwa zehn Jahren einmal umsetzen.

- Landwirtschaft kann daher heutzutage gar nicht mehr als reines Unternehmen betrieben werden. Um Landwirtschaft überhaupt in einem gewissen Umfang aufrechterhalten zu können, wird sie in allen Industriegesellschaften durch offene oder verdeckte Subventionen gestützt. Solange wir in diesem Wirtschaftssystem leben müssen, wäre es sinnvoller, die gesamte Landwirtschaft als das zu behandeln, was der Ökolandbau schon von Anfang an war: teilweise Unternehmen und teilweise Dienstleistung. Das Honorar für seine Dienstleistungen des Artenschutzes, der Umweltsanierung und Landschaftspflege muß der Ökobauer heute noch über die Preise seiner Produkte einzubringen versuchen.

- Der bessere Weg wäre die klare Trennung von Produktpreis und Dienstleistungshonorar im gesamten landwirtschaftlichen Bereich. Dann könnten und müßten auch von dem Honorargeber, der öffentlichen Hand, klare Bedingungen gestellt werden. Weder umweltbelastende und gesundheitsgefährdende Methoden der konventionellen Landwirtschaft noch solche Roßtäuschereien wie "Stickstoffminimierung" und "integrierter Landbau" können aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden. Voraussetzungen wären als klare Kriterien der Umweltfreundlichkeit mindestens der Verzicht auf Kunstdünger, auf chemische Pestizide und auf flächenunabhängige Massentierhaltung. Das ist zwar noch kein ökologische Landbau, aber ein entscheidender Schritt in diese Richtung.

- Die früheren preisstützenden Subventionen in der EG erbrachten den Wahnsinn, Butterberge wegschmeißen und Milchseen wegkippen zu müssen. Die derzeitigen flächenbezogenen Subventionen sind extrem unsozial. Der Großgrundbesitzer kann von den ihm zufließenden Hunderttausenden leicht einen Urlaub in der Karibik abzweigen. Dem kleinen Zehn-Hektar-Bauern dagegen zerfließen die paar Kröten, ohne daß seine Frau, seine Kinder und sein Hof fühlbar bessergestellt würden. Die flächenbezogenen Subventionen beschleunigen das heuchlerisch "Strukturverbesserung" genannte brutalste Bauernlegen der europäischen Geschichte.

- Nicht mit Besitz, sondern nur mit Arbeit kann man sich ein Honorar wirklich verdienen. Eine sinnvolle und wirksame Unterstützung würde also darin bestehen, jedem landwirtschaftlichen Betrieb, der die angesprochenen Kriterien für Umweltfreundlichkeit erfüllt, mindestens die Hälfte des Bruttolohnes und der Lohnnebenkosten jeder Vollarbeitskraft aus öffentlichen Mitteln zu erstatten. Damit würde einerseits die ökologische Dienstleistung des Bauern als solche anerkannt und honoriert. Andererseits bliebe er insofern selbstverantwortlicher Unternehmer, als er mindestens ein Drittel der Lohnansprüche selbst zu erwirtschaften hätte.

- Eine derart ehrliche und konsequente Agrarpolitik würde bedeutsame soziale und ökologische Nebenwirkungen mit sich bringen. Beispielsweise erhielte das Kleinbauerntum, dieser unersetzliche Mosaikstein im Erscheinungsbild der europäischen Kulturvölker, eine neue Überlebenschance. Dem gnadenlosen, von Ökonomiefanatikern bejubelten "Strukturwandel" wäre ein Ende gesetzt. Und das Ganze würde den Steuerzahler nicht mehr kosten als die derzeitigen Brüsseler Milliarden, von denen das meiste in der Verarbeitungsindustrie und im Handel hängen bleibt und der Rest ökologiefeindlich wirkt.

Ökoprodukte könnten erschwinglich werden

- Das Angebot biologischer Lebensmittel aus kontrolliertem Anbau würde derart steigen und die Preise dafür so sehr sinken, daß die alternativen Produkte endlich für alle Bevölkerungskreise erschwinglich wären. Außerdem könnte durch den höheren Arbeitskräftebedarf im ökologischen Landbau und durch die Begünstigung arbeitsintensiver Kulturen ein deutlicher Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes geleistet werden.

- Weil die geringeren Erträge des ökologischen Landbaus das Überschußproblem viel besser lösen würden als Flächenstillegungen, könnte allmählich die Landschaftsverödung durch letztere wiedergutgemacht werden. Anstelle vergammelter, ehemals fruchtbarer Felder innerhalb eines Flickenteppichs künstlich hergestellter, musealer "Biotope", Agrarsteppen und Zivilisationswüsten könnte wieder eine insgesamt maßvoll produktive Kulturlandschaft wachsen, ähnlich derjenigen, wie sie von unseren bäuerlichen Vorfahren in Jahrhunderten geschaffen und erhalten worden ist.

 

Baldur Springmann, geboren 1912 in Hagen/Westfalen, war in verschiedenen Umweltverbänden aktiv und gehörte zu den Mitbegründern der Grünen. Seine Lebenserinnerungen "Bauer mit Leib und Seele" erschienen 1995 im Verlag Siegfried Bublies. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb Springmann zuletzt über die Anfänge der Ökoparteien in Deutschland (JF 28/99).


 
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