© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Zeitgeschichte: Das widersprüchliche Leben des Komponisten Leon Jessel
Mörderisches Vaterland
Martina Grundmann

Zweihundert Meter von der Redaktion der JUNGEN FREIHEIT befindet sich der Leon-Jessel-Platz, der seinen Namen seit 1986 trägt. Auf dem Friedhof im Berliner Bezirk Wilmersdorf steht der recht auffällige Grabstein Leon Jessels, der die Geburts- und Sterbejahre 1871 und 1942 mitteilt und den Verstorbenen als Komponisten ausweist. Trotzdem werden nur ausgesprochene Musikliebhaber auf Anhieb wissen, daß es sich um den Komponisten der Operette "Das Schwarzwaldmädel" handelt, eines der größten Erfolge dieses Genres. Standardwerke wie das fünfbändige Brockhaus Riemann-Musiklexikon geben sich zugeknöpft; kein Hinweis, daß er ein außergewöhnlich produktiver Komponist war, der auch viele Lieder, Märsche, Walzer, Salonstücke, Mazurken und Klavierstücke geschaffen hat. Hauptsächlich komponierte er Operetten, deren launige Titel "Ein modernes Mädel" (1918), "Ohne Männer kein Vergnügen" (1918), "Die Postmeisterin" (1921), "Schwalbenhochzeit" (1921), "Das Detektivmädel" (1921) zu den Umständen seines Todes in bedrückendem Kontrast stehen. Immerhin wird erwähnt, daß über Jessel nach 1933 ein Aufführungsverbot verhängt wurde. Die Widersprüchlichkeit seines Lebens, die Verblendung und Tragik seiner späten Jahre lassen sich aus dieser knappen Notiz aber nicht einmal erahnen.

Leon Jessel wurde am 22. Januar 1871 als Sohn des Kaufmanns Samuel Jessel und seiner Frau Mary geboren. Der Vater stammte ursprünglich aus Posen, wanderte in die USA aus, kehrte mit einer Amerikanerin als Ehefrau zurück und ließ sich in Stettin nieder. Die Eltern waren sehr musikalisch. 17jährig verließ Leon Jessel ohne Abschluß das Gymnasium, um sich dem Theater zu widmen. 1894 trat er aus der jüdischen Gemeinde aus, trennte sich von den Eltern, heiratete. Er bekannte sich, wie so viele assimilierte Juden, zu einem deutschnational eingefärbten Patriotismus und komponierte einen Marsch "Hoch leb’ das deutsche Vaterland!".

Als Theaterkapellmeister an Provinzbühnen tingelte er durch Deutschland. 1911 kam er nach Berlin, wo er mit der Operette "Schwarzwaldmädel" schließlich den Durchbruch schaffte. Das in Berlin und im Schwarzwald spielende Bühnenstück feierte das Leben der einfachen Leute – und lenkte von den deprimierenden Frontnachrichten ab. Die Uraufführung fand am 25. August 1917 in der Komischen Oper statt.

Der gutsituierte Jessel heiratete 1921 zum zweiten Mal; seine Frau Anna war neunzehn Jahre jünger als er. Wie sein Biograph Albrecht Dümling in dem Buch "Die verweigerte Heimat. Leon Jessel – der Komponist des ’Schwarzwaldmädel‘ berichtet, lud Berlins NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels um 1929 Jessel in seine Steglitzer Wohnung ein. Bei dieser Gelegenheit machte Jessel den Demagogen mit einer seiner Kompositionen bekannt und schlug sie ihm, analog zur "Giovinezza"-Hymne im faschistischen Italien, als nationalsozialistische Parteihymne vor. Man kann nur mutmaßen, um welches Stück es sich handelt. Dümling verweist auf das unpublizierte Lied "Sei stolz, daß Du ein Deutscher bist" (nach Robert Misch 1860-1929). Einen Marsch mit dem vielsagenden Titel "Morgenröte" widmete er 1932 "Seiner Exellenz, dem Herrn Ministerpräsidenten Benito Mussolini, dem großen Führer Italiens". Bereits 1920 hatte er einen Hindenburg-Marsch komponiert.

Seine Frau Anna trat am 1. März 1932 der NSDAP bei, gewiß mit Billigung Jessels, der sich den Deutschnationalen nahefühlte. Nach Hitlers "Machtergreifung" suchte er um Aufnahme in den "Kampfbund für Deutsche Kultur" Alfred Rosenbergs – Verfasser des "Mythos des 20. Jahrhunderts" – nach, wurde jedoch abgewiesen. Auch die Intervention eines befreundeten Parteimitgliedes im gleichgeschalteten Preußischen Kultusministerium nützte nichts. Jessels Bekannter insistierte, daß aus "Meister Jessel, aus dessen ganzem Wesen, aus dessen ganzen Werken nichts als Urdeutsches, echt Volkstümliches spricht und singt". Hier dürfe "die arische Abstammung nicht ganz allein ausschlaggebend sein. Es muß eine Möglichkeit geben, daß von Oben verfügt wird: ‘Jessel ist einer der Unseren!’ Mit treudeutschem Gruß und Hitler Heil". Jessel selber ging so weit, sich gegenüber der NS-Bürokratie als Opfer jüdischer Operettendirektoren darzustellen. Die Anbiederungen nützten ihm nichts. Im Winter 1933/34 wurde seine Frau aus der Partei ausgeschlossen, weil sie die Scheidung verweigerte. Sie legte Widerspruch ein, den das Oberste Parteigericht der NSDAP am 15. Januar 1934 zurückwies.

Jessel durfte zunächst noch der Fachschaft Komponisten der Reichsmusikkammer angehören, doch 1937 wurde ein neuer Antrag auf Mitgliedschaft abgelehnt. Eine Beschwerde im Propagandaministerium wurde zurückgewiesen. Der Bescheid wurde Jessel erst nach längerer Zeit, im Januar 1938, zugestellt, woraus sich schließen läßt, daß die Ablehnung sogar der Goebbels-Bürokratie peinlich war. Seit Dezember 1937 waren auch Schallplattenaufnahmen jüdischer Künstler und ihr Vertrieb untersagt.

Selbst in einem gleichgeschalteten System gibt es Spielräume für menschlichen Anstand, zumindest für den, der den Mut hat, sie zu suchen und auszunutzen. Das zeigte sich im Vorfeld von Jessels 70. Geburtstag. Damals meinte der Hauptschriftleiter der stramm nazistischen Pommerschen Zeitung: "Jessel ist Jude und deshalb tot für uns", während das Konkurrenzblatt Stettiner Generalanzeiger sogar noch ein Interview im vornehmen Adlon-Hotel am Brandenburger Tor mit ihm führte.

Am 15. Dezember 1941 wurde er zur Gestapo-Leitstelle in Berlin-Mitte vorgeladen, wo ihm "Verbreitung von Greuelmärchen", "Hetze gegen das Reich" und "Verstoß gegen das Heimtücke-Gesetz" vorgeworfen wurde. Grund war ein 1939 geschriebener Brief an seinen Librettisten Wilhelm Sterck nach Wien, den man bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt hatte. Darin hatte Jessel geschrieben: "Ich kann nicht arbeiten in einer Zeit, wo Judenhetze mein Volk zu vernichten droht, wo ich nicht weiß, wann das grausige Schicksal auch an meine Tür klopfen wird."

Er wurde verhaftet, erst zehn Tage später erhielt seine Frau eine Sprecherlaubnis. Anna Jessel fand ihren Mann schwer erkrankt, man hatte den 70jährigen im Bunker inhaftiert. Am 2. Januar 1942 wurde er in die Krankenabteilung des Gefängnisses verlegt, am 4. Januar erhielt seine Frau ein Telegramm, er sei ins Jüdische Krankenhaus eingeliefert worden. "Um 12 Uhr schloß mein Mann seine Augen mit den Worten: Gestapo, Gestapo, Gestapo", berichtete sie über die letzten Momente.

Sein Biograph kommentierte: "Leon Jessels Tod wirkt in dieser Nachbarschaft fremdartig, war der Komponist doch ganz gegen seinen Willen zum Regimekritiker geworden. Trotz aller Schikanen wolle er bis zuletzt nicht wahrhaben, daß ihn sein Vaterland nicht als Deutschen akzeptierte und ihm deshalb sein Heimatrecht verweigerte."

Kurz nach Kriegsende, am 31. Juli 1945, wurde das "Schwarzwaldmädel" schon wieder auf einer Bühne in Berlin-Tegel aufgeführt. Die Operette erlebte in kurzer Zeit 20 Neueinstudierungen, 1950 wurde sie erfolgreich mit Sonja Ziemann verfilmt. Bis heute gehört sie zum festen Bühnenrepertoire. Doch belastbare Loyalitäten hatte auch sie nicht stiften können, sie hatte Jessel nicht einmal vor Ausgrenzung, Verfolgung und Tod bewahrt.


 
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