© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Wendetagebuch: Eine Chronik der Ereignisse in Leipzig zwischen Wende und Einheit
Geschichten aus einer Heldenstadt
Kai Guleikoff

Wer mit der Kamera in der Hand sich in Krisenzeiten zwischen die Fronten begibt, kann durch sein Wagnis zu Tode kommen. Im letzten Jahr dieses Jahrhunderts starben bereits 22 Kameramänner und -frauen. Der Liedermacher Wolf Biermann hat in einem seiner Frühwerke, der Ballade vom "Tod des Kameramanns", diesen Menschen ein Denkmal gesetzt.

Der gebürtige Leipziger Martin Naumann führte ein Fototagebuch vom 4. September 1989 bis zum 3. Oktober 1990 über die friedliche Revolution in seiner Heimatstadt. Einen Auftrag dafür hatte er nicht, aber das Gespür für die Einmaligkeit dieser Zeit. Martin Naumann schreibt im Vorwort: "Inzwischen sind seit den historischen Tagen bald zehn Jahre vergangen. Unser Leben hat sich grundlegend verändert. Es lohnt, sich diese bewegende Zeit erneut ins Gedächtnis zu rufen. Mögen die Fotodokumente sowie die unveränderten Auszüge aus meinem Tagebuch dazu anregen."

Naumann war Fotoreporter der Leipziger Volkszeitung, dem damaligen Zentralorgan der SED-Bezirksleitung Leipzig. Wer dort arbeiten durfte, mußte "systemnah" sein. Ehrlich bekennt er auch: "Ich hatte bis dahin treu und brav, wenn auch nicht völlig widerspruchslos, alles fotografiert, was mein Auftraggeber im Bild festgehalten wissen wollte: die heile Welt des Sozialismus, Erfolge, Planerfüllung, Heldenverehrung."

Das Tagebuch beginnt bei den Auseinandersetzungen um die Durchsetzung der Reisefreiheit für DDR-Bürger. Noch wurde offiziell von "rechtswidrigen Zusammenrottungen mehrerer Personengruppen" gesprochen. Der 2. SED-Bezirkssekretär Hackenberg fand auf der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR in der Leipziger Oper die abgegriffene Erklärung: "Die Schuld an der gegenwärtigen Lage tragen die ewig Gestrigen in der BRD." Doch die Staatsräson begann zu schwinden. Im Stadtbezirk Leipzig-West wurden die öffentlichen Toiletten mit Staatsflaggen "geschmückt". Die übliche Bierseeligkeit für 50 Pfennige pro halben Liter kam nicht mehr auf. Am Nachmittag des 7. Oktober 1989 marschierte Bereitschaftspolizei auf.

Nicht wie sonst bei den großen Fußballspielen im Leipziger Zentralstadion, in Halbschuhen und mit Schirmmützen, sondern in Stiefeln und Schutzhelmen. Die meisten Leipziger hatten einen derartigen "Aufputz" noch nie gesehen. Doch Teilnehmer der "Blutnacht vom Dresdener Hauptbahnhof" warnten ihre arglosen Mitbürger. Die Sachsen, für ihre Gewitzheit bekannt, begannen die "Internationale" zu singen. Verwirrung bei den jungen, wehrpflichtigen Polizisten. Nur die Polizeihunde kläfften von allem unbeeindruckt.

In diesem Augenblick stieg Martin Naumann auf eine Bank, hob sich damit heraus – und fotografierte. Er erinnert sich. "Über die Konsequenzen bin ich mir im klaren; Prügel von beiden Seiten sind möglich. Die Polizei könnte denken, ich sei ein Agent, die Demonstranten hingegen, ich sei einer von der Stasi." Als dann in der Grimmaischen Straße doch noch "Schlagstock frei!" befohlen wurde, befanden sich die Bildreporter Martin Naumann und Volkmar Heinz inmitten des Tumultes. Es entstanden einige der relativ wenigen Bilder vom Vorgehen der Staatsmacht gegen ihr Volk. Der 9. Oktober 1989 war der gefährlichste Tag in der Wendegeschichte der Messestadt. Die Betonfraktion der SED-Führung wollte sich für die "Demütigungen des 7. Oktober" rächen. Die Leipziger witzelten darüber, daß sie mit Kaffee die Polizisten und mit Kuchen die Polizeihunde "bestochen" hätten. Bereitschaftspolizei aus Halle, in Dresden kampferprobt, war angefordert worden.

Angeblich sei sie mit Schußgeräten für Gummigeschosse ausgerüstet gewesen. Die Krankenhäuser mußten Bettenkapazität bereitstellen, den Bestand an Blutkonserven melden und Hausbereitschaft für das Fachpersonal anordnen. Zwei Hallen auf dem Gelände der Landwirtschaftsausstellung in Leipzig-Markkleeberg waren für "Zuführungen" vorbereitet. Der "Hort des Widerstandes", die Nikolaikirche, war durch 500 SED-Aktivisten besetzt worden. Doch 70.000 Demonstranten beherrschten die Innenstadt in bewunderungswürdiger Disziplin. Am Leipziger Hauptbahnhof standen zwei Verkehrspolizisten in ihren langen weißen Mänteln und regelten den Verkehr vom Demonstrationszug weg. Die Führungs- und Ordnungskräfte des Neuen Forums zeigten sich in den berühmt gewordenen weißen Schärpen mit der schwarzen Aufschrift "Keine Gewalt". Dort wo sich Polizeikräfte gesammelt hatten, ertönte der vielstimmige Ruf "Schützt die Polizei!" und vereinzelt "Polizisten, reiht euch ein!" Die Freitreppe zum Haupteingang der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am Dittrichring, an der Runden Ecke, war vom Neuen Forum in "Sicherheitspartnerschaft" besetzt worden.

Am folgenden Tag war der Leipziger Volkszeitung dieses Weltereignis an Besonnenheit nur 15 Zeilen wert. Die geistige Wende stand noch am Anfang. Am 17. Oktober 1989 erklärte der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung Altenburg, daß er die Lage in Leipzig nicht verstehe; an seiner Kreisgrenze jedenfalls werde die Konterrevolution haltmachen.

Ohne Zweifel waren unter den Teilnehmern der Montagsdemo auch Bürger aus der Stadt und dem Kreis Altenburg gewesen. Leipzig war zum Wallfahrtsort des friedlichen Protestes geworden. Der 23. Oktober 1989 zählte 300.000 Teilnehmer auf den inzwischen legendären Ringstraßen. Die Angst war nun völlig verschwunden, und der Volkswitz kommentierte die veränderte Konstellation in der Führung der DDR: "Krenz mach dir keinen Lenz", "Egon mach einen Plan" und "Wir brauchen die Partei nicht, aber die Partei braucht uns".

Die heroischen, die schönen Tage der Revolution waren nun vorbei. Jetzt begann das zähe, nervenaufreibende Ringen um den sich zeigenden Neubeginn. Martin Naumann berichtet unter dem Eintrag vom 25. Oktober 1989, daß ein Offizier der Staatssicherheit in der Zeitungsredaktion erschien und Fotos der Demonstrationstage "sichten" wollte. Doch – und so zeigte sich der Wandel – die Bildreporter verweigerten die Preisgabe des Fotomaterials. Der sonst so gefürchtete Offizier des MfS mußte sich erfolglos verabschieden.

Die Leipziger hörten am 4. November 1989 mit Verwunderung den Vorschlag des Schriftstellers Christoph Hein, Leipzig zur "Heldenstadt der DDR" zu erheben. Martin Naumann schrieb in sein Tagebuch: "Ist das nun Ernst oder Ironie?"

Nach der spontanen Maueröffnung, durch einen Ablesefehler des überarbeiteten Politbüromitgliedes Schabowski ausgelöst, "individualisierte" sich die Bürgerbewegung auch in Leipzig.

Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, eröffnete im Museum der bildenden Künste eine Ausstellung der "westdeutschen Moderne" unter dem Namen "Zeitzeichen". Die Resonanz war mäßig. Konstruktionen eines Joseph Beuys wurden vom darin ungeübten DDR-Bürger als Sperrmüll angesehen. Die "Zeitzeichen" spielten sich auf den Volkspolizeiämtern ab, im Ergattern von Visumstempeln direkt in den damals noch mehrseitigen Personalausweis der DDR.

Tag für Tag begleitet die Kamera des Martin Naumann den Betrachter weiter zur Währungsunion am 1. Juli 1990 und zum Tag des Beitritts am 3. Oktober 1990. Im Tagebuch steht: "Eine Fast-Food-Bude füttert Menschen ab... Der Karl-Marx-Platz, Schauplatz so vieler Montagsdemonstrationen, ist fast leer... überall fließt der Alkohol, leere Bierbüchsen scheppern über die Straße..."

 

Martin Naumann: Wende-Tage-Buch; Ein Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Militzke Verlag, Leipzig 1998, 144 Seiten, s/w -Fotos, 49,80 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen