© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Fußball-Europa statt Euro-Europa: Eurasiens Fußball-Landkarte wird bunter
Spielerische Landnahme
Jutta Winckler-Volz

Seit etlichen Jahrzehnten schon geistert ein ideologisches Gespenst durch den Bewußtseinhaushalt der europäischen Rechten – der Ethnopluralismus. Es handelt sich dabei um die Auffassung, allenfalls kulturell Wünschenswertes ließe sich in politisch durchsetzbare Handlungsmaximen umsetzen. Die historisch belehrte Vernunft freilich weiß, daß derlei in der Weltgeschichte noch nie zuwege gebracht worden ist. Damit handelt es sich um eine Kopfgeburt, die in den Bereich des ästhetisch Schönen, allenfalls des Utopischen gehört.

Der Wunsch zur Bewahrung bzw. Vermehrung von Pluralität und Formenvielfalt im Reiche des Organischen, näherhin der Menschengattung, steht im Bewußtsein als einer von vielen möglichen Werten neben anderen Werten. Somit schafft besagte "Wert"-Vorstellung weder sichere Identität noch die gerade politisch wünschenswerte Homogenität, vielmehr befördert sie als Wert unter Werten die "Tyrannei der Werte" (Nicolai Hartmann). Wirklichkeitsgerechter wäre es sich endlich einzugestehen, daß eine Handvoll Völker ausreichend waren und sind, den gesamten Globus politisch zu administrieren und wirtschaftlich zu organisieren.

Anders aber verhält es sich in der Welt des vom Markt-Kapital mittlerweile show- bzw. leistungssportlich durchmodellierten Welt des Fußballsports. Hier walten Götter, die in anderen Segmenten des sozialen Lebens längst ausgetrieben worden sind. Hier sondert sich die Welt tatsächlich in jene Ethnien und Kulturationsgestaltungen, die rechte Manifeste fruchtlos für das Politische ersehnen. Und dies keineswegs "noch immer", sondern mehr und mehr: Die europaweite Tendenz zur showsportlichen Pluralisierung, zur parapolitischen Organisierung in Verbänden und Verbändchen, verstärkte sich seit der Wende von 1989; von den Völkersplittern Eurasiens wurde und wird sie als willkommenes Mittel zu symbolischer Repräsentation der eigenen Nationwerdung ergriffen.

Mit großem Erfolg. Slowenien, ein Paradebeispiel für jenen Tribalismus politischer Minigrößen, wie ihn ein "weltwirtschaftlich" getarnter US-Globalismus wünscht, hat sich soeben mit Bravour zur Endrunde der Europameisterschaft 2000 in Holland/Belgien geschossen. Das Nachsehen hatten Griechenland, Lettland, Albanien und Georgien. Ein wahres Wunderreich der Volkskulturen und Nationen, die es – mit Ausnahme von Bürgerkrieg oder Erdbeben – schwer hätten, jenseits der publikumsträchtigen Fußballbühne von der Europa- bzw. Weltöffentlichkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Von der sportlichen Tapferkeit zur ergebnismäßigen Lächerlichkeit ist es gelegentlich nicht weit; auch San Marino, der Briefmarkenstaat, besitzt einen Fußballverband und nimmt damit am Wettbewerb teil. In acht Spielen wurden 44 Feindtreffer kassiert, ein eigenes Tor erzielt und null Punkte eingefahren – Hauptsache dabeigewesen, zumal das Beispiel Liechtensteins Hoffnung macht. Das Land der Briefkastenfirmen fuhr immerhin vier Zähler ein, womit es sich hinter Aserbaidschan, der Slowakei sowie der vormaligen Krösus Ungarn ins Defilee würdiger Verlierer einreiht. Mazedonien, Malta, Estland, Litauen, Bosnien, Herzegowina, Moldawien, Andorra, Armenien und Island gehören ebenso zu symbolpolitischen Gewinnern wie Weißrussland, die Färöer-Inseln und Zypern.

Wann treten die Katalanen, Bretonen, Rätoromanen, Walachen, Ruthenen, Oberschlesier, Wallonen, Flamen, die Bajuwaren mit eigenen Verbandsmannschaften auf den eurasischen Plan? Wann kommen die Korsen, die Basken, die Südschleswiger? Rund fünfzig Teams nehmen bislang am Eurocup der nationalen Verbände teil; nähmen die zentralistisch verbohrten Zentralen Europas endlich Abschied von gestern, ließe sich die Zahl der Anwartschaften bzw. Beitrittskandidaten gewiß um ein Drittel vermehren. Das Mutterland des Fußballs, die mehr oder weniger königlich vereinten Nordsee-Inseln, diene als leuchtendes Beispiel: mit Schottland, Nordirland, Irland, England und Wales tragen sie dem stammesmäßigen Aufbau des Reiches mustergültig Rechnung. Somit dürfen auch die afrikanischen, die kleinasiatischen Anrainer im Lichte einer gleichsam euro-römischen UEFA-Tradition hoffen: Warum sollte der Sport sich zieren, dem demographisch-geopolitischen Beispiel der großen Politik zu folgen?

Zumal die Zeichen der Zeit auf Wachablösung stehen. Hannes Löhr, ein kölnischer Torjäger-Veteran, der vom DFB sein Ausgedinge erhält, scheiterte heuer zum dritten Mal bei dem Versuch, die ihm anvertraute Verbandsauswahl der Unter-21jährigen Deutschen "nach Olympia" zu bringen. Man schaffte das Achtelfinale nicht, neun Gruppensieger düsen im Sommer 2000 nach Sydney und selbst sieben Gruppenzweite übertrafen die deutsche Handy-Equippe. Im trägen, mürben Rentiersklima der Pfründen-Republik bleibt derlei ohne negative Konsequenzen für die leitenden Angestellten. Von einer krähwinkelhaften Bundespolitik in Kauf genommen oder gar bußneurotisch erstrebt schwinden Präsenz, Sprache, Leistungsfähigkeit und damit Ansehen und Einfluß der Deutschen von Dekade zu Dekade. Warum sollten Showsportfiguren es Politik und Wirtschaft nicht gleichtun? Diesen ideologischen Gleichschritt der gesellschaftlichen Segmente vollzieht besonders Egidius Braun, der hiesige Fußballobere: schleppt er die Verbandsmillionen für dieses oder jenes gute Zweckchen ins Ausland, ist er von sich selbst zu Tränen gerührt.

So scheint sich die Physik des Sozialen, des Politischen, des Ökonomischen nach Art verbundener Röhren zu verhalten: kommt es hier zu Veränderungen des Pegels, erfolgt dort das Gleiche. Dem Turbokapitalismus des tendenziell von sämtlichen Hegungen entbundenen Marktes folgt die Transformation von partizipatorisch offenen Traditionsvereinen in Aktiengesellschaften für Privatprofiteure. Das sogenannte Bosman-Urteil der Euro-Advokaten liegt exakt auf der Linie einer Bewußtseins-Modellierung, die aus der personalen Freiheit verantwortungsethischer Gestaltungsspielräume einen Individualextremismus macht, eine Konsumentenmasse vereinzelter Egomanen. Die miteinander-gegeneinander pidginengleutsch radebrechenden Söldnertruppen der über den Fußballfreund hereingebrochenen "Champions"-League entsprechen jenen streunenden Managertrupps, die von Unternehmen zu Unternehmen, von Land zu Land jobben. Im Erfolgsfall ihr Salär nach oben treibend, bei Pleiten sich gegenseitig Feuerschutz gebend, Verlierer sind stets die anderen.

Die kleinen oder noch nicht ausformierten Ethnien, Tribalismen und Kulturgestaltungen können hoffen. Über den Showsport öffnet sich ihnen der Weg ins Licht der Weltöffentlichkeit. Auf bundesdeutschem Boden ist hier zuvörderst an die kurdische Gemeinschaft zu denken: Stellt PKK-Öcalan, ihr Führer, vor seiner Hinrichtung noch eine schlagkräftige Elf ins europäische Feld? Erfolgt deren verbandliche Anerkennung von Seiten der UEFA? Wann steigt das Spiel der Spiele – Türkei gegen Kurdistan? Immerhin trennen sich die unter Jugoslawien firmierenden Serben von den Kroaten regelmäßig unentschieden. Was auch für Türken und Kurden Normalität werden können muß. In einer zusammenwachsenden Welt muß auch der Fußball sich seiner gewachsenen Verantwortung stellen.

Ein besonders schönes Beispiel dafür bot die Begegnung zwischen der türkischen und der bundesdeutschen Auswahl. Man trennte sich null zu null und "die Stimmung auf den Rängen", so die politkorrekte Medien-Sprachregelung, "war überaus erfreulich". In Giesing tobte bloß der gute, der kemalistische Chauvinismus. Auf die deutschen Spieler wirkte das Match "wie ein Auswärtsspiel", vergeblich hatte man auf eine nennenswerte Anfeuerung durch deusche Fans gewartet. Germania castrata. Nicht von ungefähr fiel die Wahl des Spielorts auf München "im Dreiländereck, um möglichst vielen türkischen Anhängern den Besuch zu ermöglichen." Den Fußballverband führen halt clevere Kaufleute ("Zum Zentralgebiet erhebt sich das Wirtschaftliche", Carl Schmitt) und – versierte Sozialpsychologen. Denn wo bloß eine homogene Gruppe anwest, ist jeder Konflikt von vornherein ausgeschlossen. Länderspiel-Landnahme im Dienste des Völkerfriedens.


 
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