© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Post-Abortion-Syndrom: Die psychischen Leiden nach einer Abtreibung
Ein Tabu aus politischen Gründen
Gerhard Quast

Etwa 129.000 Kinder – die Dunkelziffer nicht mitgerechnet – wurden bereits in diesem Jahr im Mutterleib getötet. Jede Woche sterben weitere zwei- bis dreitausend. Doch nicht nur die Ungeborenen werden Opfer einer Abtreibung. Auch die Frauen, die – aus welchem Grund auch immer – einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, leiden oft noch nach Jahren an den psychischen Folgen des Eingriffs.

Aber kaum jemand nimmt das Leid dieser Frauen ernst, kaum einer nimmt davon Notiz. Studien über die Dimensionen seelischer Verarbeitung nach einer Abtreibung gibt es zwar einige, doch die Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen sind wenig verbreitet. Selbst in psychotherapeutischen Kreisen "gibt es wenig Aufmerksamkeit dafür", beklagt Peter Petersen, Psychotherapeut am Zentrum Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Medizinischen Hochschule Hannover. Wenn es um die Frage geht, welche seelischen Folgen eine Abtreibung nach sich zieht und wie diese verarbeitet werden können, wird ein gesellschaftliches Tabu berührt, das selbst von denen, die den Frauen helfen könnten, weitgehend unangetastet bleibt. Nicht zuletzt deshalb, so Petersen, weil viele Psychotherapeuten für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechtes waren. Zudem fürchten Abtreibungsbefürworter, eine Thematisierung der sich einstellenden seelischen Spätfolgen könnte Lebensrechtlern Argumente für eine Verschärfung der derzeitigen Regelung liefern.

Petersen selbst, der immer schon nicht nur die Rücknahme des Strafgedankens einforderte, sondern auch "das pränatale Wesen des ungeborenen Menschen" und – im Falle einer Abtreibung – die Notwendigkeit der "Trauerverarbeitung" bei den Betroffenen unterstrich (und deshalb im Streit aus dem Bundesgremium von "Pro Familia" ausschied), hält diese Tabuisierung der seelischen Veränderungen nach der Abtreibung für ausgesprochen problematisch.

Laut seinen Untersuchungen könnten zwar 55 Prozent der Frauen als "psychisch symptomlos" bezeichnet werden, der Rest leidet jedoch mindestens an leichten, wenn nicht sogar an schweren, länger anhaltenden seelischen Störungen. Die Selbsthilfegruppe Rahel schätzt den Anteil der Frauen mit einem Abtreibungstrauma ("Post-Abortion-Syndrom") sogar weit höher ein.

In vielen Fällen kommt es innerhalb der ersten Tage nach der Abtreibung zu heftigen seelischen Krisen mit meist depressiven Symptomen, die sich erst im Laufe von Monaten bis zu zwei Jahren normalisieren. Ein geringerer Teil der Frauen fühlt sich zunächst entlastet; erst nach Tagen, manchmal Wochen, kommt es zu offenbaren Beschwerden, untergründigen Auseinandersetzungen mit destruktiven Träumen, Fehlleistungen wie Unfällen oder psychosomatisch zu erklärenden körperlichen Symptomen. Bei den manifesten Störungen handelt es sich laut Petersen vor allem um Schuldgefühle, gepaart mit Vorwürfen gegen den Partner, um Ängste vor Strafe und Alpträume. Auch depressive Reaktionen wie beim Verlust eines geborenen Menschen seien festzustellen. In besonders schweren Fällen breite sich Panik, jagende Angst und emotionales Chaos aus.

Erst im "Prozeß der Reifung", dem Weg zu einer bewußten Trauer – den zu unterstützen vorrangigste Aufgabe der Psychotherapeuten wäre – wandelt sich das Schuldgefühl zu bewußt vollzogener Verantwortung, so Petersen.

Zu denken gibt auch sein folgender Befund: Im Rückblick zweifelt jede fünfte Frau an der Richtigkeit ihrer seinerzeitigen Entscheidung, jede zweite lehnt für sich selbst eine weitere Abtreibung kategorisch ab.


 
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