© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Czeslaw Milosz: Das Tal der Issa
Voll poetischer Dichte
Doris Neujahr

Das bekannteste Werk des exilpolnischen Schriftstellers Czeslaw Milosz ist der Essay "Verführtes Denken" (1953), in dem er anhand vier chiffrierter Porträts von polnischen Schriftstellerkollegen die Typologie kommunistischer Intellektueller entwickelte. Im Westen wurde das Buch simplerweise als politisches Pamphlet eingeordnet. Auch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1980 wurde dementsprechend als ein politisches Signal verstanden – schließlich strebte die Solidarnosc-Erhebung damals ihrem dramatischen Höhepunkt zu. Doch die Verengung von Milosz’ Werk auf seinen politischen Gehalt ist ein großes Mißverständnis. Literaturkenner schätzen ihn als Lyriker von hohem Rang. Die Nobelpreisverleihung konnte gerade deshalb tatsächlich politische Wirkung entfalten, weil sie einen meisterhaften Dichter erreicht und sich nicht als politische Provokation abtun ließ.

Milosz wurde 1911 im Dorf Szetejnie (Seteiniai) nahe Wilna geboren. Sein Leben stand vielfach im Spannungsfeld nationaler und politischer Auseinandersetzungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den er im "Generalgouvernement" überstand, arbeitete er unter anderem als polnischer Kulturattaché in den USA, bis er sich, aus Protest gegen die Stalinisierung Polens, 1951 ins französische Exil begab. Zur rechten polnischen Emigration in Frankreich blieb er auf Distanz. Andererseits wurde er selber als "Renegat" von der linken französischen Kulturszene mit Mißtrauen betrachtet. Unter schwierigen Umständen schuf Milosz ein literarisches Werk, das derlei nervöse Zeitstimmungen sensibel aufgenommen hat, ohne sich von ihnen auch nur ansatzweise vereinnahmen zu lassen.

Sein in Frankreich verfaßter Roman "Das Tal der Issa" bietet den Schlüssel zu dieser Gelassenheit, die man zu anderen Zeiten als weise bezeichnet hätte. Er spielt in Litauen und ist autobiographisch getönt; die Kindheitsgeschichte des kleinen Tomasz ist in vielem die des Autors.

Tomasz lebt im Hause der Großeltern, kleiner polnische Gutsbesitzer, im Dorf Ginie am Issa-Fluß. Die Abgeschiedenheit der Landschaft bewahrt ihre Bewohner lange Zeit vor der Konfrontation mit den gravierenden Zeitereignissen.

Ein Idyll zeichnet Milosz dennoch nicht. Soziale Konflikte sind latent und brechen auf, böse Instinkte werden offenbar. Da begeht eine Frau Selbstmord, weil ihre Liebe zu einem Priester unerfüllbar ist. Ein Bauer erschießt einen geflüchteten russischen Kriegsgefangenen. Ein Dorfjunge, arm und getreten, quält seinerseits einen Hund zu Tode. Und Tomasz, das "Herrensöhnchen", entgeht nur durch Zufall einem Handgranatenanschlag, während sein Großvater durch Bestechung litauischer Behörden die drohende Enteignung abzuwenden versucht. Bürgerkriege, Revolutionen, Staatsgründungen, Grenzverschiebungen und der Nationalismus der verspäteten Nationen in Mittelosteuropa bringen Unruhe in den einst so gleichförmigen Zeitablauf. Sie sprengen den Rahmen der kindlichen Phantasien.

Auch die Selbsterkundungen werden immer irritierender für Tomasz. So gehört zum Beispiel das Waidwerk im Dorf zum guten Ton. Doch die Jagd bedeutet Tod, und sein Unwille, auf Tiere zu schießen, macht Tomasz in den Augen der Dörfler suspekt. Auch läßt man ihn, ohne daß er dafür einen Anlaß gegeben hat, spüren, daß seine soziale Stellung einen Graben zwischen ihn und die anderen Kinder im Dorf zieht.

In der großväterlichen Bibliothek entdeckt Tomasz die Geschichte seines Vorfahren Hieronymus Surkont, der als Pole auf Seiten des protestantischen Schwedenkönigs kämpfte, zwischen sämtlichen Stühlen saß, den polnischen und katholischen Zeitgenossen als Verräter galt und ins ostpreußische Exil ging. An seinem Beispiel erkennt Tomasz die Unmöglichkeit, ethisches Handeln entlang von nationalen, politischen oder religiösen Grenzlinien auszurichten.

Stück für Stück, aus der Sicht des heranwachsenden Kindes, öffnet Milosz dem Leser den Blick für die Eigenarten der Landschaft und ihrer Bewohner. Milosz reiht siebzig kleine Kapitel aus Tomasz’ Kindheit aneinander. Ihre poetische Dichte verrät den meisterhaften Lyriker, der Milosz ist.

Es gibt nur wenige Texte, welche die innere und äußere Welt eines Kindes mit vergleichbarer Überzeugungskraft darstellen und parallel dazu die Zeitläufte mit ihren Schrecken für den Leser präsent machen, wie dieser bis heute unterschätzte Roman. Erfreulich also, daß der Eichborn-Verlag sich zu dieser Buchausgabe entschlossen hat. Die druckgraphische Gestaltung ist eine Augenweide. Der Text geht auf die deutsche Erstausgabe von 1957 zurück, für die Maryla Reifenberg die Übersetzung anfertigte. Ärgerlich jedoch, daß die Herausgeber aus dem polnischen "Tomasz" einen "Thomas" gemacht haben. Damit verändert sich die Atmosphäre des Romans. Die DDR-Ausgabe, die 1988 im Verlag Gustav Kiepenheuer erschien, war da zuverlässiger. Trotzdem bleibt die Grundstimmung gewahrt. Der Reiz des Buchs liegt in den leisen Tönen, in denen, ganz unsentimental, die Sehnsucht nach der unwiederholbaren, glücklichen Kindheit mitschwingt.

 

Czeslaw Milosz: Das Tal der Issa. Roman. Aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, 352 Seiten, 49,50 Mark


 
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