© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Editorial

Zehn Jahre ist es her, daß Günter Schabowski, seinerzeit Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED, auf einer internationalen Pressekonferenz die neue Reiseverordnung der DDR bekanntgab. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt", teilte Schabowski den verdutzten Journalisten mit. Auf die Frage, wann diese Regelung in Kraft trete, erklärte Schabowski nach einem kurzen Moment des Zögerns: "Sofort, unverzüglich."

Schabowski Pressekonferenz, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, löste einen Ansturm von Ost-Berlinern auf die Grenzübergänge aus, an denen sich tumultartige Szenen abspielten. Nachdem sich einzelne Grenzkommandeure dazu durchgerungen hatten, die Tore zu öffnen, kosteten noch in der Nacht Tausende von Ost-Berlinern zum ersten Mal den Geschmack von Freizügigkeit. Mit diesem 9. November 1989 war die Mauer durchlässig geworden – und das Ende der DDR absehbar.

Heute nun, zehn Jahren später, erinnert eine fast schon unüberschaubare Fülle von Veröffentlichungen an die Ereignisse von damals. Viele Darstellungen leiden jedoch darunter, daß sie gewissermaßen nur den "Blick von oben" auf die Geschehnisse in jenen Novembertagen werfen. Zu Wort kommen vor allem Politiker und Intellektuelle, prominente Bürgerrechtler und Kirchenleute aus der ehemaligen DDR. Was häufig fehlt, sind die "einfachen Stimmen", sind die Erlebnisschilderungen von Menschen wie du und ich. In diese Lücke will die JUNGE FREIHEIT mit ihrer Beilage stoßen. Dutzende von JF-Lesern sind einem Aufruf dieser Zeitung gefolgt und haben ihre ganz persönlichen Gedanken und Gefühle an jenem 9. November 1989 in kurzen Berichten festgehalten. Die hier veröffentlichten Lesestücke vermitteln gleichsam "Geschichte von unten". Wer sich auf sie einläßt, begibt sich noch einmal auf den Weg in die Freiheit. (JF)


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen