© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Die Mauer ist gefallen!
Hans Meyer

Alljährlich bin ich mit meiner Familie durch die DDR nach Berlin, der Heimatstadt meines Vaters, gefahren. Ich kannte die Mauer. Als kleines Kind habe ich ihren Sinn nicht verstanden: Stillsein, Kontrollposten, dann rein, wieder Stillsein, Kontrollposten und raus. Später habe ich sie gehaßt.

Meine Schulkameraden in Offenbach haben mich nicht verstanden. Selbst als alle zehnten Klassen Berlin mit dem Zug besuchten, hatten sie sich weder für die GrePos noch für die maroden Industriekomplexe von Bitterfeld interessiert. Die Halbstarken 17jährigen soffen lieber noch ein Bier, und wenn überhaupt eine Regung aufkam, so machte man sich lustig über die DDRler.

Unser Musik- und Erdkundelehrer war einer von den Spezies, die uns auf diese Fahrt vorbereitet haben. So wollte er uns weismachen, daß der Volksaufstand von 1953 nur eine Lohnerhöhung zum Ziel hatte, an die Wiedervereinigung wurde damals wie heute nicht gedacht.

1988 war in Gesellschaftskunde das Jahr von Gorbi und Glasnost. Aber die Deutsche Frage wurde nicht gestellt. Als im Juni des darauffolgenden Jahres die Kommunisten in Peking eine Großdemonstration mit Panzern niederwalzten, war das Schreckgespenst des rechten Stalinismus wieder aufgetaucht, und man liebte Gorbi noch mehr. Parallelen zum Regime der DDR wurden von unseren Lehrern verwischt. Ansonsten stand man der beginnenden Massenflucht über Ungarn und die Tschechoslowakei kommentarlos gegenüber. Allenfalls der Physik-Lehrer ging auf dieses Ereignis ein, indem er damit die Ionenwanderung zwischen Anode und Kathode erklärte.

Am 30. September kam Genscher nach Prag und teilte den DDR-Bürgern mit, daß er ihre Ausreise erwirkt hat. Ich stand fassungslos am Fernseher und weinte – diese Szene geht mir auch heute noch so nahe, daß ich tief Luft holen muß, wenn ich nur daran denke. Selbst der für den Leistungskurs Gesellschaftskunde zuständige Herr S. registrierte erst beim Sturz Honeckers am 18. Oktober, daß hier etwas passierte.

Die Ereignisse begannen sich nun zu überschlagen: Die Montagsdemonstrationen in Leipzig rissen nicht ab, und in Berlin fand die größte Demonstration in der Geschichte der DDR statt. In Diskussionen vertrat ich den Standpunkt, daß die Nato nun Druck ausüben und die Einheit erzwingen müsse. Herr S. beschwichtigte, und mein der Vater konstatierte: Mein Sohn, vorschnell ist die Jugend mit dem Worte!

Der 9. November glänzte zunächst mit zwei Freistunden. Es war einer dieser Tage, an denen man vergammelte, wie man sich es nur als Zwölftklässler erlauben kann. Abends saß ich mit meiner Mutter zu Tisch, als über das Fernsehen die Bombe des Jahrzehnts einschlug. Günter Schabowski, der Sprecher des SED-Politbüros, gab soeben beiläufig die neue Ausreiseregelung bekannt. Als er auf die Frage eines Reporters bemerkte, daß diese Regelung nach seinem Kenntnisstand sofort in Kraft tritt, glaubte das meine Mutter sofort und freute sich schon auf den Besuch unserer Verwandten aus Ost-Berlin und Magdeburg.

Meine Mutter fuhr am Abend zum Sport und traf dort meinen Vater. Obwohl er sich auf unseren Urlaubsreisen nie auch nur eine der stündlichen Nachrichten hatte entgehen lassen, hatte er von Schabowskis Pressekonferenz nichts mitbekommen. Den Berichten meiner Mutter schenkte er keinen Glauben. Erst als sie um 23 Uhr nach Hause kamen, war es für uns alle sicher: Die Mauer ist gefallen!

Der Sekt wurde aus dem Kühlschrank gezaubert, und wir stießen auf einen deutschen Nationalstaat an. Diese meine Hoffnung wurde in den darauffolgenden Wochen sowohl in der Schule als auch im Bundestag kleingeredet. Herr S. warnte jeden Augenblick, wir dürften das Ausland nicht ängstigen, in Anbetracht unserer Geschichte sollten wir uns mehr zurückhalten. Die Stimmung in der Schule kam der Anifa-Parole "Mehr Deutschland = mehr Verbrecher" sehr nahe. Immer hatte ich die Sorge vor einem leichtfertigen Verspielen der Einheit durch unsere entschlußlosen Politiker.

Erlöst wurde ich erst am 20. November als ich die Berichterstattung der Leipziger Montagsdemo verfolgte. Daß die linken Medien eine ernste Gefahr für die Wiedervereinigung darstellte, zeigte sich in der distanzierten Berichterstattung der "Tagesthemen" an diesem Abend. Sabine Christansen lobte zunächst die Appelle der Redner und Demonstrationsteilnehmer zu Demokratie und Gewaltfreiheit, aber, so Christiansen, es waren heute zum ersten Mal auch andere Töne, aus dunklen Tagen, zu hören. Dann wurden die Demonstranten eingeblendet, die den Ruf skandierten "Deutschland einig Vaterland". Wirklich unheimlich dunkel, dachte ich mir. Aber nun wußte ich, der Weg zu einem Deutschland war frei.


 
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