© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Du in Windhuk. Nicht zu fassen!
Heinrich Lummer

Man muß sich das vorstellen. Da ist man einer der letzten Angehörigen der "Stahlhelm-Fraktion", das heißt, eines jener gegen Ende der achtziger Jahre rar gewordenen Exemplare von Politikern, die noch an Deutschland und die Wiedervereinigung glaubten und die sie auch wollten. Und dann kommt sie tatsächlich, die Wiedervereinigung, und man ist nicht dabei. Denn der Fall der Mauer war das entscheidende Ereignis auf dem Weg dahin; die staatliche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 folgte zwangsläufig. Gysi, Momper und andere wollten zwar die DDR noch retten. Aber das war ein Kampf gegen Windmühlen und den Strom der Geschichte.

Am Nachmittag des 9. November 1989 hatte ich unbeschwert eine Dienstreise nach Namibia angetreten. Um 17.15 Uhr ging die Maschine ab Frankfurt. Wie üblich bei Nachtflügen, man ißt, trinkt, liest Zeitung und versucht zu schlafen. Mir gelingt das in der Regel. So auch damals. An Bord gab es keine aktuellen Informationen. Morgens dann die Landung in Windhuk. Einen Botschafter hatte die Bundesrepublik noch nicht, Deutsch-Südwest war noch auf dem Wege in die eigene Staatlichkeit. Auf dem Flughafen fiel kein Wort unseres Vertreters zu dem Ereignis des Vorabends in Berlin. Erst in der Residenz fällt mehr beiläufig – als handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit – die Bemerkung: Die Mauer ist gefallen.

Nun dachte ich nicht, mich tritt ein Pferd. Aber es erwischte mich kalt: In Berlin eine Sternstunde der Menschheit – und du bist Tausende von Kilometern entfernt in Windhuk! Diesen Augenblick, für den du in erster Linie mehr als 30 Jahre politisch gearbeitet hast, den du herbeigesehnt hast – und du in Windhuk. Nicht zu fassen!

Du hast die Mauer entstehen und wachsen sehen, jeden Fluchtversuch miterlebt und jedes Loch, das durch vertragliche Vereinbarungen entstand. Du hast den Satz formuliert: Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist. Und nun bist du weit weg. Unvorstellbar!

Natürlich war die Freude groß. Aber dann kam gleich der Gedanke, du mußt zurück. Dabeisein ist alles.

Als ich mich nach der nächsten Flugmöglichkeit erkundigte, kam die Ernüchterung. So schnell war ein Rückflug nach Berlin nicht zu bekommen. Außerdem: Die eigentlich bewegenden Ereignisse in der Nacht vom 9. zum 10. November an der Mauer waren vorüber, man konnte nicht mehr dabeisein. Zu spät. Wer zu spät kommt … Und was konnte man anderes auch tun als sich freuen und feiern. Das konnte man auch hier, in Windhuk. Und zu bewegen war nun ohnehin nichts mehr. Das Rad der Geschichte würde nun in die richtige Richtung weiterdrehen.

Natürlich waren es vor diesem geschichtlichen Hintergrund besonders schöne Tage in Namibia. Am 16. November war ich zurück in Berlin. Die Wiedervereinigung zeichnete sich ab.

 

Heinrich Lummer, ehemaliger Innensenator von Berlin, war von 1987 bis 1998 CDU-Bundestagsabgeordneter.


 
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